Geistiges Pilgern. Die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem. Fernreisen im Geiste. Vorbild für heute?

Einfach grandios. Das Mittelalter hell und erfindungsreich, alles zur Ehre Gottes und für das eigene Seelenheil. In der Hochzeit des Pilgerns – im 12. bis 14. Jahrhundert nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela – kam das geistige Pilgern auf. Warum? Nicht jeder konnte sich diese Fernreisen leisten, monatelang abwesend zu sein, denn immer stand auch die Frage zu beantworten, wie die zurückgebliebene Familie für diese lange Zeit absichern.

Also: Fernreise im Geiste. Mit dem Segen der Kirche. „Es gab sogar Handlungsanleitungen, wenn diese Reisen spiritualiter (nicht corporaliter) zu anerkannten Pilgerstätten führten. Je nach Person und Kontext konnte es sich bei einer geistigen Pilgerfahrt um eine Imagination von Reisen zu Wallfahrtsorten handeln, um allegorische Ausdeutungen des menschlichen Lebens als beständige Pilgerschaft oder um eine Meditationübung.“ *) – Unwillkürlich kommt einem da übrigens die „geistige Kommunion“ in den Sinn, gedacht für diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, den Herrn nicht mit der konsekrierten Hostie empfangen mögen, dürfen, können.

*) Quelle: Julia Burkhardt. Heilung und Genesung. Jakobus-Studien 25, S. 151.

Pilgerreisen sicherten gesellschaftliches Prestige

Gleichwohl: eine erfolgreiche tatsächlich durchgeführte Pilgerfahrt sicherte weiland dem Pilger in der Heimat gesellschaftliches Prestige. Die Pilger wurden bewundert, ob ihres Mutes, ob ihrer Religiosität, ob ihres Gottvertrauens, ob ihres Glaubens an den Herrgott. Na klar, sie waren ja auch vor Beginn ihrer Pilgertour höchstoffiziell von der Gemeinde verabschiedet, gesegnet und mit den erforderlichen Insignien ausgestattet worden.

Wie ist es heute? Ganz anders. Nichtwissen gepaart mit Desinteresse. Als Elke und ich beim ersten Mal kurz vor Antritt der Pilgertour im Frühjahr 2006 den örtlichen Pfarrer aufsuchten, kam dem Geistlichen gar nicht in den Sinn, uns seinen Pilgersegen anzubieten. Er kannte ihn auch nicht. Auch Jahre später, als der „Spaßmacher der Nation“ mit seinem Buch „Ich bin dann mal weg“ schon lange Furore gemacht hatte, keine substantielle Änderung; sogar heute (2024) schaute mich ein Monteur der Telefongesellschaft fragend an, als ich ihm entsprechende Wandphotos vom Jakobsweg erklären wollte.

Ich weiß nicht, ob Guillaume de Digulleville

der Erfinder der geistigen Pilgerreise war. Um 1330 brachte er „Die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem“ – “ Le Pelerinage de Vie humaine“ zu Papier. In späteren Jahren galt er – jedenfalls im deutschsprachigen Raum – als Vorbild, man ahmte ihm nach. Der Autor war Zistenziensermönch (gestorben nach 1358), entwarf über 13000 Verse – ein einmaliges Panorama der Morallehre und Religiosität; bis ins 16. Jahrhundert das Maß schlechthin.

Unter den heute noch über 80 erhaltenen Handschriften ragt eine besonders hervor, nämlich der um 1375 entstandene Heidelberger Codex Palatinus latinus 1969. Von dieser Schrift möchte ich berichten, beziehe mich dabei auf die von Thomas Städtler in 2014 herausgegebene Prachthandschrift mit 126 farbigen Miniaturen und einleitenden Erläuterungen, Verlag WBG Darmstadt; vgl. auch Deutsche Nationalbibliothek. – Im weiteren Verlauf werde ich dann auf die Dimensionen und Wirksamkeit geistigen Pilgerns im Mittelalter eingehen, aufgeschrieben von Julia Burkhardt im Rahmen der Jakobusstudien, Band 25: Pilgern – Heil – Heilung, Narr Verlag, Tübingen, 2023.

Die Pilgereise ins Himmlische Jerusalem

Welcher Pilger kennt nicht das wunderschöne Gewölbe in der Kathedrale von Burgos, die übrigens der Gottesmutter und Jungfrau Maria geweiht ist? Der Pilger wird überwältigt gewesen sein, von der grandiosen Kathedrale sowieso und von diesem Gewölbe, das dem Himmlischen Jerusalem nahe kommt. Ich war es auch. Die meisten YouTube-Video-Autoren „Mein Jakobsweg“ offensichtlich nicht; nur gelegentlich ein Wort darüber.

Kathedrale Burgos. Das Himmlische Jerusalem.

Einer Kamera gleich, wird der Pilger quasi den Weitwinkelzoom seines Augenlichtes aktiviert, sich mit ihm und seinen Blicken ganz langsam nach oben getastet haben. Schlussendlich eine unendliche Schönheit und Friedfertigkeit vor Augen. Ja, da wollte er hin. Das war, ist und blieb sein Ziel: die himmlische Herrlichkeit beim Herrgott.

Davon wollte Guillaume de Digulleville den Daheimgebliebenen erzählen, und: das war ja noch nicht alles, das Himmlische Jerusalem der Kathedrale von Compostelle mit dem Berg der Freude wartete ja noch auf ihn – Ziel und Höhepunkt seiner Pilgerreise schlechthin. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er dieses Bild vor Augen gehabt haben könnte, vielleicht ein konkretes Gewölbe einer Kathedrale in oder nahe Toulouse.

Zusammenfassung, Intention, Lehren der Pilgereise

Wir werden später sehen, dass es de Digulleville wichtig war, den Lesern, den Menschen seiner und auch unserer Zeit zu verdeutlichen, dass die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem, in die himmlische Herrlichkeit des Herrn kein Selbstgänger ist, mögen die Vorsätze noch so gewissenhaft formuliert und ehrlich gemeint gewesen sein. Letztlich will der Protagonist mit der Niederschrift seines Traumes anderen Pilgern ein mahnendes Beispiel geben, sich immer gewahr zu sein, auch plötzlich und unerwartet abberufen zu werden. Der Reihe nach.

Der Pilger geht zunächst auf die Tugenden ein, auf das Beschenktsein durch die Gottesgnade, er erfährt maximale Unterstützung, die sogar so weit geht, dass man ihn mit dem Inhalt einer Tasche versieht, die ihn an das apostolische Glaubensbekenntnis erinnern soll, er also bei Gott verweilen soll und kann. Der Pilger scheut letztlich all die Last, mit der Folge, dass ihm bildhaft seine Schwächet vor Augen geführt wird, wie Sie später sehen werden.

So kommt es, wie es kommen muss. Der Pilger wird mit den sieben Todsünden konfrontiert wie: Habgier, Stolz, Neid, Zorn, Hochmut, (Völlerei und Wollust). Seine Rettung von allem hieraus und schlussendlich die Erlösung ist nicht selbstgemacht, sie verdankt er der Gnade Gottes. Er steht mit Gottesgnade am Ufer des Meeres. Schon bald wähnt er sich beim Herrgott.

Nein, er muss weitere Prüfungen absolvieren. Der Pilger muss erst die Furcht vor der Strafe Gottes erfahren, (Anm.: für uns moderne Menschen völlig undenkbar, anachronistisch), die Angst vor der Hölle (Anm.: angeblich typisch für das christliche Mittelalter) und ewiger Verdammnis erfahren, um reif für das Kloster (Synonym) zu sein. Über weitere im Detail beschriebene Imponderabilien hinweg, monastische Tugenden, etc., erlesen zubereitetem Mahl als Synonym für die Heilige Schrift, die in einem Gefäß aus Pergament gereicht wird, der Begegnung mit der Taube (Heiliger Geist), wird er nunmehr mit dem Altsein konfrontiert: Krankheit, Gebrechen, sogar mit dem Tod. Der „Sensenmann“ kann sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen, er wird von Gott (Gottesgnade) gehindert.

Auf der Pilgerreise des Lebens zu jeder Zeit auf den Tod vorbereitet sein

Seine Zeit ist noch nicht gekommen. Wie allen seinen Zeitgenossen war es auch dem Protagonisten eine schreckliche Vorstellung, ohne Vorbereitung zu sterben. – In keinem Stundenbuch oder Brevier fehlt bekanntlich die Bitte um Verschonung vor dem unvorbereiteten Tod. – Wieder hilft ihm Gottesgnade, belehrt ihn, läßt ihn das Glockengeläut zur Morgenandacht hören: Glück gehabt, er erwacht …

Wo, wenn nicht auf dem Camino de Santiago, hat der Pilger Zeit und Muße über den Sinn seines Lebens, seiner Endlichkeit zu meditieren. Es gibt auf jedem Camino Teilabschnitte, wo das gelingen kann. Zum Beispiel auf der Meseta.

Zur Geschichte der Handschrift, wann wohin die Handschrift letztlich gelangte, welche Adelshäuser tangiert waren, sie überstand auch die Wirrnisse des Dreißgjährigen Krieges 1618-48, in welcher Schrift geschrieben, werde ich mich an dieser Stelle nicht näher äußern können, auch nicht zu den 126 Miniaturen, deren selbst- und eigenständige Deutung ohnehin nicht praktikabel zu sein scheint.

Gang der Handlung

Guillaume de Digulleville nutzt das Medium des Ich-Erzählers, identisch mit dem Pilger, der sich auf die Reise ins Himmlische Jerusalem aufmachen möchte. Interessant dabei ist, er begegnet zunächst zahlreichen schönen Damen, unter diesen allegorischen Firguren die Dame Gottesgnade; sie führt ihn in ihr Haus, eine Kirche, weist ihn in die Sakramente ein. Nach und nach gesellen sich weitere Figuren hinzu, die sich als Vernunft, Buße, Nächstenliebe, Weisheit, Natur und Moses als Bischof erklären. Es wird heftig gestritten, diskutiert, Aristoteles als Argumentationshelfer hinzugezogen. Gegen Gottesgnade können sie jedoch nichts ausrichten. Er erhält von ihr die Pilgertasche, die den Glauben versinnbildicht, einen Stab, der die Hoffnung zum Ausdruck bringt, er erhält weiters eine Rüstung, deren einzelne Teile für gewissen Tugenden stehen: Wams: Geduld – Panzer: Stärke – Helm: Mäßigung – die Halsberge: Nüchternheit – Handschuhe: Selbstbeherrschung – Schwert: Gerechtigkeit – Schwertscheide: Demut – Schwertgehänge: Beharrlichkeit – dessen Schnalle: Standhaftigkeit und schließlich der Schild: die Vorsicht.

Im weiteren Verlauf ereilen ihn diverse Imponderabilien, er muss sich beispielsweise an einer Kreuzung entscheiden, nimmt natürlich zunächst den falschen Abzweig, gerät an eine ansehnliche junge Dame, die den Müßiggang verkörpert, neben ihr ein sogenannter Mattenflicker, Sinnbild für Arbeit, der aber das, was er ausgebessert hat, jeweils wieder zerstückelt, von neuem anfängt zu arbeiten. Er versucht ihn von seinem Angebot zu überzeugen, den Himmel zu erreichen, der Pilger entscheidet sich für die junge Dame, die sich als Freundin seines Körpers ausgibt, interessante Beschreibung, nicht wahr.

Bald taucht Gottesgnade auf, die ihm vom richtigen Weg erzählt. Auf dem Weg dorthin begegnen ihm die sieben Todsünden, eine hässliche Alte, die personifizierte Faulheit, sodann die nächste Alte, der Stolz, später der Neid, der Geiz, die Völlerei, die Unkeuschheit. Diesen geballten auch körperlichen Attacken ist der Pilger nicht gewachsen, verliert seinen Stab, also die Hoffnung. Zu seinem Glückl meldet sich Gottesgnade, hilft ihm aus der Patsche, reicht ihm aus der Wolke den Stab, fordert ihn auf, ein Gebet an die Jungfrau Maria zu richten. Er nimmt ein Bad der Buße, gelangt schließlich an ein Meer, aufgewühlt von starken Gewittern und von Wind, im Meer schwimmen etliche Frauen und Männer.

Am Ufer sitzt die häßlichste Gestalt. Wer wohl? Der Satan, der mit seinem Netz nach ihnen fischt, ihre Seele zu entreißen. Gegenüber Satans Tocher, die Ketzerin, kann sich der Pilger nur mit seinem Stab wehren. Die an den Beinen gefiederte Leichtfertige Jugend trägt ihn über Wasser bis zur Heimsuchung, die mit ihrem Hammer, der Verfolgung und ihrer Zange, deren Greifer die Not und die Angst ist, auf Menschenjagd unterwegs ist. Die Jugend, leichtfertig und unvorsichtig, wie sie nun mal ist, lässt den Protagonisten; die Heimsuchung rettet ihn mit ihrer Zange. All das macht den Pilger unruhig, er fleht um Hilfe bei Gottesgnade. Gottesgnade schlägt ihm eine Abkürzung in das Himmlische Jerusalem vor, nimmt ihn mit auf das Schiff Religion, dessen Mast das Kreuz Jesu Christi ist, und auf dem sich mehrere Klöster befinden. Den Zutritt zu einem dieser Klöster soll ihm verwehrt werden, es ist der keulenbewerte Pförtner Gottesfurcht, er wehrt sich wieder einmal mit seinem Stab.

Im Kloster trifft er auf die Nächstenliebe, den Gehorsam, die Vize-Priorin ist die Diszipin, die Selbstgewählte Armut, die Keuschheit, Unterweisung und Studium, die Enthaltsamkeit, Gebet und Fürbitte, das Gotteslob, die ihn alle freundlich entgegentreten.

Doch dann kommen die Vorboten des Todes: Tod (Mort), Krankheit, das Alter. Es handelt sich um zwei hässliche Alte, die ihn würgen und an das Bett fesseln. Ja, auch jetzt wird der Pilger wieder gerettet, diesmal durch eine freundliche Dame, die Barmherzigkeit, die Tochter der Nächstenliebe, die in ihrer Brust Milch als Mitleid für ihn bereithält, ihn sodann in die Krankenstube führt, wo ihm der Tod, es ist eine Alte, mit einer Sense in der Hand die Seele vom Leib trennen will.

In diesem Moment der erlösende Augenblick. Der Pilger wacht auf, die Klosterglocken zur Frühmette läuten, der Traum ist vorbei. Der Protagonist will mit der Niederschrift seines Traumes anderen Pilgern ein mahnendes Beispiel geben, sich immer gewahr zu sein, auch plötzlich und unerwartet abberufen zu werden.

Weitere Lektüre

Interessant auch die Ausführungen von Julia Burkhardt: Heilung und Genesung. Dimensionen und Wirsamkeit geistigen Pilgerns im Mittelalter. Jakobus-Studien 25: Pilgern – Heil – Heilung; S. 147 ff. Narr Francke Attempto Verlag Tübingen, 2023. – Ich werde ggfs. später darauf zurückkommen.