Der einzigartige Camino de Santiago

Versuch einer philosophischen Betrachtung. Ohne das Grab des Jakobus kein Jakobsweg.

Jeder Pilger wird seine persönliche Sicht einfließen lassen: Die einen den Camino als sportiven Wanderweg begreifen, die anderen als Pilgerweg, wiederum andere als Mischung von beidem. Stichworte: Selbstfindung, Wunsch nach Verbesserung der Lebenswirklichkeit, Gastfreundschaft, Solidarität, Respekt für andere, Empathie, Toleranz, Spiritualität.

Auch wenn der Durchschnittsbürger (nicht abwertend gemeint) mit der Begrifflichkeit Mittelalter zunächst nichts Gutes in Verbindung bringt, intellektuell nicht nachvollziehbar, wird er nicht umhin kommen, die mittelalterliche Geschichte des Jakobswegs in seine heutigen Betrachtungen des Camino miteinzubeziehen.

Meditierende Pilger in Santa Maria de Eunate am Camino Aragones; nur wenige Kilometer vom Camino Frances entfernt. Der Abstecher lohnt

Ohne den Apostel Jakobus kein Jakobsweg. Ohne das Grab des Heiligen keine Kathedrale in Santiago de Compostela. Ohne die mittelalterlichen Pilger kein Jakobsweg.

Das sich einzugestehen, sollte selbstverständlich sein, auch wenn es schwerfallen sollte. In der Regel führt der moderne Mensch sein Dasein ja maximal auf seine Großeltern zurück.

Im Nachfolgenden gehe ich unter anderem ein auf die Abhandlung von Anton Pombo von der spanischen Internetplattform gronze.com vom 21. Februar 2021. Pombo zieht die oben benannten Stichworte hinein in die Frage, was den Camino so reizvoll macht, was den Camino-Pilger der Nachkriegszeit so radikal vom Wanderer oder Touristen unterscheidet. Sie, die Werte, basierten seiner Meinung nach auf den Prämissen des mittelalterlichen Christentums. Sie seien also immer noch abrufbar, rudimentär gestützt auf Familie, Bildung und dem soziokulturellen Umfeld – trotz Aufklärung und Französischer Revolution und den aus beiden ableitendem Rationalismus, und wie ich hinzufüge Relativismus, Subjektivismus und teils offener Gegnerschaft, wenn nicht Feindschaft der (katholischen) Kirche gegenüber; auf jeden Fall die Säkularisation.

Der christliche Beitrag: Kardinaltugenden

Tugend ist die Fähigkeit, Gutes zu tun, ohne Gegenleistung. Der Glaube soll Früchte tragen, vorbehaltlos in die Tat umgesetzt werden. Die christliche Ethik nimmt dabei allgemein anerkannte Werte auf. Gegenwärtig hat der Begriff “Tugend” seine umfassende positive Bedeutung verloren, während ihm in der Zeit der Aufklärung noch besondere Bedeutung beigemessen wurde. Thomas von Aquin (13. Jh.) definierte die Kardinaltugenden wie folgt: „Eine Tugend heißt Kardinal- bzw. Haupttugend, weil an ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel.“

Die nachfolgend genannten 14 Werke der Barmherzigkeit prägen das Christsein. In der einen oder anderen Form findet man sie wiedergegeben in den Evangelien der Evangelisten oder in den Schriften des Völkerapostels Paulus. Diese „Werke“ besitzen höchste Aktualität, wie schon der hl. Augustinus im 4./5. Jh. unterstrich: „Alle erwarten, dem Christus zu begegnen, der im Himmel sitzt; aber schaut ihn, wenn er vor der Tür liegt, schaut ihn in dem, der hungert, der friert, in dem, der nichts hat, in dem, der Ausländer ist.“ – Quelle: Erzdiözese Wien.

Vierzehn Werke der Barmherzigkeit. Wer kennt sie?

Die sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit

  1. Dem Hungrigen zu essen geben,
  2. den Durstigen zu trinken geben,
  3. die Nackten zu bekleiden,
  4. die Fremden aufzunehmen,
  5. den Kranken beizustehen,
  6. die Gefangenen zu besuchen und
  7. die Toten zu begraben.

Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit

  1. Dem Rat geben, der ihn braucht;
  2. den lehren, der nichts weiß;
  3. den korrigieren, der irrt;
  4. den Traurigen trösten;
  5. die Beleidigungen verzeihen;
  6. die unangenehmen Menschen mit Geduld ertragen; und schließlich
  7. beten.

Je mehr ich den Aufsatz von Anton Pombo lese, verarbeite, durchdringe, je mehr bringe ich ihm meine Hochachtung entgegen. Interessante Gedankengänge aus der Sicht eines offensichtlich christlich geprägten Spaniers.

Welche Werte setzt die Französische Revolution dagegen?

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Antagonistische Werte? Nachahmenswerte Ansprüche? Humanistische Werte? Man kommt leider nicht umhin zu konstatieren, so mein Diktum, das unter diesem Rubrum die fürchterlichsten Kriege und Vernichtungskämpfe aller Zeiten geführt worden sind: 1. und 2. Weltkrieg, Leninismus, Stalinismus, Hitler-Deutschland, et ecetera. Die Kriege, die dem Christentum zugeschrieben werden, sollen nicht vergessen werden, jedoch: in erster Linie waren sie initiiert von christlichen Staatslenkern, Königen, Kaisern, Landesherren. Sie waren nicht unbedingt konfessionell gebunden. Der katholische König von Frankreich verbündete sich einst während des 30-jährigen Krieges 1618-1648 mit dem protestantisch-schwedischen König gegen den katholisch-deutschen en Kaiser. Pombo verortet den Camino als einen Schmelztiegel, der alles absorbiere, verarbeite, also Geschichte annimmt, keine Gewinner und Verlierer beider Seiten sieht. Alte und moderne Schule seien sich einig, alle genannten Werte mehr oder weniger überzeugend anzuerkennen, umzusetzen Richtung Faszination des Abenteuers Camino de Santiago.

Derjenige Pilger, der die Fernroute des Jakobswegs wählt, ...

… zum Beispiel von St. Jean aus, wird sich darüber im klaren sein, dass er auf dieser heiligen und historischen Route bewusst die Hektik des modernen Lebens abstreifen wird, das Gehetztsein des Alltags, die Kurzlebigkeit mit ihren Marktgesetzen eintauscht gegen ein Pilgerdasein, das sich ihm neue Horizonte erschließt, durch Langsamkeit Neues erkennen, vielleicht im Zwiegespräch mit dem Herrn. Dabei werden ihm Mit-Pilger, Freiwillige der Herbergen und gastfreundliche Anwohner helfen: in dieser geballten Form auf keinem anderen Wanderweg anzutreffen.

Neugierige und wissbegierige Pilger saugen Landschaft wie Infrastruktur auf, eine über Jahrhunderte alte sich entwickelnde christ-katholische Infrastruktur. Pombo fragt sich zu Recht, wie es eigentlich angehen könne, dass beispielsweise ein amerikanischer oder ein deutscher Geschäftsmann, zu Hause nur allerbeste Hotels gewohnt, nun plötzlich bescheidene Herbergen und Hostels ansteuern, Gastfreundschaft und brüderliches Zusammenleben suchen; dies alles offensichtlich als wesentlichen Bestandteil des Camino begreifen, zu Hause dies niemals auch nur in Erwägung ziehen würden.

Alle Pilger sind halt Pilger, unterschiedlich, unabhängig von Geschlecht, Beruf, Einkommen, Status, Herkommen, Hautfarbe. Kurzum, ist das die Magie des Camino? Stimmt das wirklich?

Soziologen und Psychologen stellten schon in den 70ziger Jahren …

… Verschiebungen fest. Alte Pilgerwege des Westens erfuhren eine neue Interpretation, gestützt auf den Individualismus des Einzelnen: introspektive Prozesse, Reflexion und persönliche Vorstellungen, gepaart mit einer diffusen Spiritualität.

Irgendwie die alte Art und Weise des Pilgerns mit den eigenen Vorstellungen in Verbindung bringen, geleitet von leichtverständlichen Codes oder deren Rituale in der Art einer Therapie zu (be-) nutzen. Der so individuell gesteuerte Pilger werde nicht unbedingt das Kontemplative suchen, er suche irgendwie auch immer das Compostela-Abenteuer: die Gemeinschaft der Mitpilger, die Interaktion mit den Hospitaleros, kurzum, nicht in völliger Einsamkeit durch die Felder streifen. Wer kann schon die völlige Ruhe und vor allem die absolute Stille ertragen? Offensichtlich muß diese Fähigkeit neu erlernt werden. Dazu verhilft in abgespeckter Form ein mehrtägiger Aufenthalt in einem kontemplativen Kloster.

Zum Abschluß zieht der Autor …

… einen interessanten Vergleich zu Papst Johannes XXIII. und dessen berühmten Ausspruch Aggiornamento (auf den Tag bringen / Anpassung an die Gegenwart). Der Papst meinte allerdings nicht damit, was viele nach wie vor glauben, das Zurückdrängen traditioneller Werte und vor allem nicht das Negieren überlieferter Glaubensinhalte. In keiner anderen heiligen wie religiös geprägten Route sei diese große Lehre gespiegelt – denn in diesem Camino de Santiago. Der Jakobsweg sei also mutmaßlich der einzige Weg, der ein wirksames Aggiornamento durchlaufen habe, bei dem christliche und profane Werte zusammengeführt wurden und übergehen in einen globalen Geltungsbereich, somit verständlich auch für Menschen anderer Kulturen denn nur der westlichen.

Zusammenfassung

Die Pilgerreise gleiche einem gut gefilterten Kompendium der Lehren der westlichen Philosophie, Religion und Geschichte. Sie ermögliche, viele der guten Prinzipien und Einstellungen zu erkennen und zu praktizieren, die einen Menschen tugendhaft machen, in einem linear verlaufenen Raum offen sein, mit anderen interagieren. Mithin ein Anreiz für die persönliche Entwicklung learning by doing. Jede der Herausforderungen stelle eine Prüfung dar, bei der eine Metapher weiterentwickelt werde und deren Werte das Rezept für Wachstum darstelle. Wie die Guten von Star Wars sagen würden, sind und bleiben die Werte des Camino die Kraft, die die Pilger immer begleiten.

Ich hingegen möchte schließen mit einem Rekurs auf …

… Javier-Gomez-Montero`s in 2010 herausgegebenem Buch „Wege und Umwege nach Compostela – Ein literarischer Jakobsweg in Castilla y Leon“:

  • Gar sehr wollte Gott Spanien ehren, als er den heiligen Apostel dorthin sandte, besser als England und Frankreich wollte er es stellen, denn dort gab es nirgends einen Apostel. *)
  • Seit die Spanier Christus kennenlernten, seit sie nach seinem Gesetz die Taufe empfingen, wollten sie nie mehr unter einem anderen Gesetz leben, und weil sie sich zu ihm bekannten, litten sie manche Pein. *)

*) S. 59. Literarischer spanischer Text um 1250, Poema de Fernán González.

Erzählungen, Gedichte, Essays und Erinnerungen

... von fünfundzwanzig spanischen Autoren des Zeitraumes 2010/2017; allesamt Träger des El Premio Castilla y León de las Letras (Preis für Briefe). Erstausgabe 2010, deutsche Übersetzung Verlag Ludwig, Kiel 2017.

Das Jakobsland – die autonome Region Kastilien-Leon – macht mehr als die Hälfte des 800 km langen Pilgerwegs aus. Die Autoren begeben sich auf Spurensuche nach den Ursprüngen der Pilgerfahrt. Kindheitserinnerungen wie Landeskundliches und Sprachgeschichtliches fließen in die einzelnen Erzählungen ein, wobei der Apostel Jakobus wie Santiago de Compostela eine dominierende Rolle einnehmen –  der aktuellen Säkularisierung und dem Massentourismus zum Trotz.

Ich beschränke mich auf die Erzählung von J. A. Gonzales Sainz.

Sie hat mich besonders angesprochen. Zwei Protagonisten, unterschiedlicher sie nicht sein können, kommen vor der Kirche von San Juan de Ortega ins Gespräch. Sie eine Top-Managerin, er ein Angestellter, ein Durchschnittsbürger. Ohne der Geschichte vorgreifen zu wollen, sie lohnt es, in Gänze gelesen zu werden, thematisiert sie doch sehr das von Anton Pombo angesprochene Faszinosum, dass back home erfolgreiche Manager sich auf dem Camino wohlfühlen, dort auch ihre Probleme reflektieren.

Bewegend wie Gonzalez Sainz die Geschichte einläutet. 23. September. Tag der Vollkommenheit, der Reinheit, mit der der Lichtstrahl am Morgen die Tagundnachtgleiche durch das Fenster der Kirche fallen läßt auf „Mariä Verkündigung“ mit Gabriel, dem Verkündigungsengel: Begegnung und Erfüllung. Schwärmend fügt er hinzu, dass Hände wie Gesichter eine unglaubliche Ausdruckskraft besäßen: Verkündigung der Vollkommenheit und Verheißung einer denkwürdigen Gabe. Unglaublich toll formuliert. Ein außergewöhnlicher Schriftsteller halt.

Eine äußerst erfolgreiche und kühl bis kalt agierende Managerin …

… verliebt sich geradezu in die Einfachheit des Pilgerns – auf dem Camino Frances gen Santiago de Compostela. “In den einfachsten Herbergen“, fuhr sie jetzt mit einer merkwürdigen Fröhlichkeit fort, „stellt man dir eine Pritsche zur Verfügung.“ Freundlich aber bestimmt werde sie zugewiesen, ohne Widerspruch akzeptiert. Man dürfe Waschräume und Toiletten benutzen; eine Nacht Unterschlupf, Schutz vor Kälte oder Hitze, geschundene Füße pflegen, morgens ein kleines Frühstück zu sich nehmen, danach wieder der gleiche Trott, das gleiche Ritual: sich wieder auf den Weg machen, Ruhe finden, wohltuende Ruhe für die im Leben gebeutelten – auf tausenderlei Arten – verlorenen Seelen. Wer mag, findet Gesellschaft, findet Stille, wie auf dem Weitermarsch am nächsten Tag.

„Wissen Sie, mein Leben lang erreiche ich alles, indem ich es befehle, klipp und klar, denn ich verfüge über genügend Mittel und Unmengen von Mitarbeitern, und die Ziele, die ich verfolge, zeigen mir, wenn sie erreicht sind, neue auf. Doch hier suche ich genau das Gegenteil: über nichts zu verfügen, nicht zu befehlen, ohne Abhängigkeiten oder Hast, ohne Überfluß, Berechnung, Interessen oder Luxus.“ –

Traum? Ja. Wunschvorstellung? Ja. Realität? Ja, manchmal.