Wissenstransfer. Islamische Kultur und Wissenschaft im Mittelalter

Eine ubiquitäre Legenbildung.

Für den veröffentlichten Mainstream ist die Sache klar: das rückständige mittelalterliche Europa habe sich nur durch die islamische Wissenschaft weiter entwickeln können. Derzeitige Lehrstuhlinhaber propagieren eine erwünschte Wahrheit, nicht die wirkliche historische Wahrheit. Zumeist wird als Musterbeispiel das maurische Spanien zitiert. Nach wie vor bringen TV-Dokumentationen diese Mär unters Volk. Gerne wird ergänzend die maurische Toleranz angeführt, die ein schönes Zusammenleben von Moslems, Arabern, Berbern, Mozarabern, Juden und Christen ermöglicht habe.

Was wird unisono, ubiquitär (überall verbreitet) behauptet?

Das Abendland hätte viele seiner antiken Schriften verloren, die Moslems hingegen hätten selbige (z. B. die von Aristoteles) konserviert, kommentiert und den Europäern gebracht. Diese Annahme ist falsch. Marco Gallina bringt diesen Gedankengang sehr gut zur Entfaltung – in seinem Essay „Orient begegnet Okzident“ vom 5. April 2018 in die Die Tagespost.

Aber wie konnte es überhaupt zu dieser Legenbildung kommen? Kurz gesagt, indem man das katholische Spanien herabgesetzt und den Islam mit seiner maurischen Kultur im Gegenzug überbewertet hat. Nach Meinung des Pulitzer-Preisträgers James A. Michener habe Washington Iriving (1783-1859), amerikanischer Schriftsteller, aber auch Jurist und späterer Gesandter vom Balkan, mit seinem in 1829 verfassten Werk Die Alhambra den dafür nötigen Samen ausgelegt. Er begeisterte nicht nur sein englisch-sprachiges Publikum, er beeinflußte in erheblichem Maße ihr Denken und das vieler Historiker, in dem er sehr einseitig die Partei des Islam ergriff, sodass vielerorts die Vertreibung der Mauren bedauert wurde.

Ebenfalls in 1829 brachte Alexander Slidell Mackenzie (1803-1848) sein dreibändiges Werk A Year in Spain heraus. Er attestierte als 26jähriger dem spanischen Königspaar Isabella die Katholische und Ferdinand Betrug, Grausamkeit und Unterdrückung.

Bertrand und Petrie widersprechen

Erst das Geschichtswerk der Historiker Louis Bertrand (1866-1941) und Charles Petrie (1895-1977) The History of Spain rückte die Tatsachen zurecht. Wiederholt warnte vor allem Bertrand vor dem muslimfreundlichen Schrifttum, das sich seiner Meinung nach dem Grunde nach gegen den katholischen Glauben richte – wie heute. Er thematisierte u.a. auch die Grausamkeit, die die Spanier den Moslemkriegern abgeschaut hätten. So kommt er zum Fazit: „Wägt man das Für und Wider ab, so kann man die Moslemherrschaft mit Fug und Recht als großes Unglück für das Land bezeichnen.“ Deutlicher geht`s nicht.

Die Frage, warum die Werke dieser nicht mainstreamkonformen Schriftsteller auch und gerade heute kein Gehör finden, beantwortet sich selbst.

Einschub

daß die lateinisch verfassten Schriften der römischen Antike von europäischen Klöstern gesammelt, kommentiert und der Nachwelt übergeben worden sind.

Knapp zehn Jahrhunderte besaßen moslemische Sklavenhändler das Monopol in Afrika. 17 Millionen Schwarze wurden von den moslemischen Arabern versklavt und/oder verkauft. Quelle: Focusportal vom 4.7.2020. Saudi-Arabien hat die Sklaverei erst in den 1960-ziger Jahren untersagt.

Neben Cassiodor (485-585), spätantiker römischer Staatsmann, Gelehrter und Schriftsteller, hinterließ auch Boethius (477-524), spätantiker römischer Gelehrter, Politiker, Philosoph und Theologe, den Goten/Germanen antike Handschriften aus dem lateinischen Raum, aber eben auch Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische, zum Beispiel: Den Anfang von Aristoteles „De interpretatione“.

Boethius wurde überdies zum wichtigsten Vermittler der griechischen Logik, Mathematik und Musiktheorie an die Lateinisch-sprachige Welt des Mittelalters bis ins 12. Jahrhundert. Also alles sehr viel früher, als von den arabischen Moslems überhaupt noch keine Rede war.

Zurück zu Marco Gallinas Essay „Orient begegnet Okzident“.

Er zitiert mehrere Gegenmeinungen.

Remi Brague, französischer Religionsphilosoph (8.9.1947; arabische und mittelalterliche Philosophie, Träger des Joseph-Ratzinger-Preises 2012) dazu:

  • Die Übersetzungstätigkeit vom Griechischen ins Arabische ginge nicht von Moslem aus, sondern von Christen und Juden.
  • Weder der berühmte persische Arzt, Physiker und Philosoph Avicienna(980 – 1037, eigentlicher Name: Abū ʿAlī al-Ḥusain bin ʿAbd Allāh ibn Sīnā) noch der ebenso berühmte Philosoph Averroes (1125-1198; u.a. Hofarzt der Almohaden von Marokko) sprachen griechisch.

Gerne werde auch vergessen zu erwähnen, daß die umfangreiche und bedeutende kaiserliche Bibliothek von Konstantinopel bis zum 4. Kreuzzug (1204) Bestand hatte.

Sylvain Gouguenheim, franz. Professor für Mediävistik in Lyon (6.8.1960), stieß schon 2008 in die gleiche Kerbe, in dem er ausführte,

  • das arabisch-islamische Denken sei gar nicht geeignet gewesen, das abendländische Denken zu befördern.
  • Bereits im 12. Jh. habe ein gewisser Jakob von Venedig (+ 1147; venezianischer Kirchenrechtler) „Aristoteles“ übersetzt.
  • So sei dessen Übersetzung dem bedeutenden englischen Theologen Johannes von Salisbury (1120-1180; studierte bei Peter Abaelard in Paris, war Sekretär von Thomas Becket) bekannt gewesen, ebenso zu gleicher Zeit dem Jurist Burgundio von Pisa, der als Botschafter seiner Heimatstadt in Konstantinopel beispielsweise die griechisch verfassten Werke des großen Johannes Chrysostomos (349-407; einer der vier Kirchenlehrer des Ostens) und die des Arztes Claudius Galenus übersetzte (129-199 n. Chr. in Rom; nach Hippokrates 460-370 v. Chr. der bedeutendste Arzt der Antike).
  • Das griechische Erbe ins Abendland sei folgerichtig hauptsächlich über den byzantinisch-orthodoxen Weg erfolgt – nicht über den arabisch-moslemischen.

Vor allem in Deutschland wurde dem Autor daraufhin unterstellt, das Manifest eines „kulturellen Rassismus“ geschrieben zu haben. Die Süddeutsche nannte sein Buch „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ das Skandalbuch eines Mittelalter-Sarrazin. Das sei Islamophobie. Nicht viel anders hatte selbige Zeitung in 2018 übrigens Manfred Lütz mit seinem neuesten Buch „Der Skandal der Skandale – Die geheime Geschichte des Christentums“ beschimpft.

Der Mediävist Jacques Heers (6.7.1924 – 10.01.2013; lehrte in Paris) stellte überdies vor Jahren fest, daß der moslemische-arabische Teil des Wissenstransfers bei weitem überschätzt würde:

  • Die Logik als eine der Sieben Freien Künste käme aus der Tradition der europäischen Domschulen.
  • Jahre bevor der moslemische Philosoph Averroes einen prägenden Einfluss auf das Abendland hätte ausüben können, hätten sich bereits im 11. und 12. Jahrhundert aus den (katholischen) Domschulen die mittelalterlichen Universitäten entwickelt.

Fazit. Es waren stets die Christen, die gezielt nach antiken Schriften suchten. Das christliche, mittelalterliche Europa hat sich selbst erleuchtet, gestaltete selbst seine Zukunft – im Zeitalter der aufstrebenden Handelsstädte und des aufblühenden Universitätswesens.

Quelle: Die Tagespost vom 5.4.2018. Marco Gallina. Orient begegnet Okzident

OKTOBER 2021. „DAS MITTELALTER WAR DAS LABOR UNSERER MODERNE“

LE POINT, ein französisches Wochenmagazin, stützt prinzipiell die vorgenannten Thesen in einem Beitrag mit dem Mediävisten Florian Mazel und weiteren Historikern. Deren neuestes Werk titelt: „Nouvelle Histoire du Moyen Age.“

Hierin werden viele Vorurteile der Epoche zwischen 500 und 1500 revidiert. Die Kirche als Mittelpunkt der Gesellschaft, die gregorianische Wende zwischen 1050 und 1200.

Es habe keinen Bruch mit der Antike gegeben, wie es die Renaissance postulierte. Tatsächlich sei die Antike für das Mittelalter vor allem christlich gewesen, mit der Zeitspanne Anfang des 4. Jhs. mit Kaiser Konstantin dem Großen bis zum heiligen Augustinus Anfang des 5. Jhs.; als wichtiger Referenzpunkt. 

Quelle: Internationale Zeitschriftenschau, Die Tagespost, 21. Oktober 2021,  (KS).