Dort, wo Pilger aller Länder sich treffen

Was zögerst du, Freund des Jakobus, brich´auf nach Santiago de Compostela, dort wo sich alle Völker treffen

Zitat entnommen dem Pilgerführer Codex Calixtinus, 12 Jh.

Junge Pilger auf dem Weg nach Castrojeriz

Einstimmung

Elke, stell` dir vor, Dr. G. ist auch schon den Jakobsweg gegangen. Mit seiner jüngsten Tochter. Na ja, so jung ist sie nun wiederum auch nicht, siebenundzwanzig Jahre, aber voller Enthusiasmus, soll ihre beste Entscheidung gewesen sein, den Camino zu gehen, ganz bewusst mit ihrem Vater. In diesem Sommer wollen sie den Küstenweg von Porto aus machen; nicht wie wir in 2011 via Arcos und Ponte de Lima. Ein Blick auf die Pinwand hatte genügt, eine Jakobsmuschel an ihr mit dem Santiagokreuz gut sichtbar.

Eine Woche zuvor hatten zwei Golfbilder mein Interesse geweckt: Wo spielen Sie? In welchem Club? Handicap? Die übliche neutrale Distanz schon nach wenigen Minuten überwunden. Wirklich, Sie haben eine eigene Webseite? Schaue ich mir nachher an. Flugs von ihm notiert: www.jakobspilger-westwaerts.info. Na klar, für mich ist diese Art der Kontaktaufnahme und -pflege von jeher quasi ein Selbstgänger, kein Problem, Menschen, Geschäftspartner anzusprechen, ihre Umgebung auf sich wirken lassen, erkennen, was die Vertiefung der geschäftlichen Beziehungen begünstigen könnte. Sich selbst zurücknehmen, ist so leicht nicht.

Der Jakobsweg – die längste Kennenlernmeile. Ja, mag durchaus sein, jedenfalls für diejenigen, die keine innere Beziehung zum Camino aufbauen wollen oder können, die explizit das Abenteuer reizt. Die Etappen abreißen, gerne sportiv Strecken von nahezu 50km bewältigen, die üblichen Fragen stellen: Woher kommst du? Seit wann bist du unterwegs? Warum gehst du den Camino? Sich sodann selbst produzieren, schnörkellos, das allabendliche Pilgermenü im Fokus: trinken, Spaß haben, essen. Von diesen Pilgertouris werde ich nicht erzählen wollen. Im Vordergrund sollen auch nicht Wanderer stehen, die dem berühmtesten deutschen „Vorturner“ Hape Kerkeling nacheiferten frei nach dem Motto: Was der konnte, kann ich schon lange.

Mich interessieren in erster Linie Geschichtenerzähler mit Hintergrund, mit Substanz: Paul aus Toronto, der ältere Würzburger mit seinem Bruder, Shaun aus Denver/Colorado, Mrs. Kim und Mr. Choi aus Südkorea, der Deacon aus den USA, die Evangelikalen aus Deutschland, Söhnke aus Astorga, Heidrun aus Bremen, die Señora aus Rabanal del Camino, Siegmar Richter Gnadenlos, Bunter Vogel aus Hamburg, Herr Hillermann aus Bremen, Pater Adalbert aus Tschechien, Peter aus dem Saarland, Harold und Irene aus Calgary/Kanada, Hajo aus nahe Braunschweig, Räto aus der Schweiz, das Oldenburger Arztehepaar am Flughafen, Florian aus Potsdam, der Señor vom Comosapiens, der moslemische Pilger aus Aschaffenburg, die Rikscha-Familie aus NRW, der Südafrikaner von Portomarin, der Engländer von Carrion de los Condes, und, und, und, wie eben auch ein Dr. G. + Ergänzung Dezember 2024: Monte do Gozo 2006 vs 2024.

Die Pilgergeschichte des Dr. G.

Wenige Wochen später, Ende Juni 2024. Mit viel Genugtuung und leuchtenden Augen erzählt Dr. G. von seiner Pilgertour. Nein, nicht wie wir quer durchs Land via Ponte de Lima, nein, von Porto aus zur Küste, den Caminho Portugues Costa, ca. 280 km bis nach Santiago de Compostela. Das erste Bild unten links zeugt davon. Da hatten die Beiden, Vater und Tochter (sie ist die Organisatorin), schon 23 km in den Knochen. Für den ersten Tag ganz ordentlich. Sidestep Fatima, der große Marienwallfahrtsort, liegt 272 km südlich. Ein beeindruckender Ort. Wir sahen damals in 2011 vor allem viele gläubige junge Männer mit riesigen Kerzen in der Hand.

Übrigens, eine gerne gestreute Mär, wonach nur alte Frauen in den Gottesdiensten sitzen. Weit gefehlt, ein Blick auf die Webseite Missa Tridentina untermalt mein Diktum. Zurück zu Dr. G. Ich sag`s einmal etwas despektierlich: ein smarter Kerl, lockerer Typ. Fotoquelle: Dr. G., nebenstehend und unten.

Pilgerurkunde. Compostela. Wer nicht blind ist, bewusst mit offenen Augen durch das Leben geht, wird, wenn er die verschiedenen Arztpraxen vor seinem Auge Revue passieren lässt, festmachen, dass hier in den Praxisräumen des Dr. G. nicht einfach nur Landschaftsbilder aufgehängt sind. Staunend sieht er, natürlich auch eine Sie, hier betreibt einer eine Facharztpraxis, der ein Faible für den Jakobsweg hat. Er sieht unter anderem aufgehängt zwei Urkunden des Pilgerbüros von Santiago de Compostela der Jahre 2023 und 2024. Nächstes Jahr soll eine weitere dort plaziert sein. Er muss zu seiner Tochter ein ausgesprochen gutes Verhältnis haben. Die beiden sind natürlich auch clever. Er, der Vater, akzeptiert klaglos, dass seine junge Tochter die bessere Kondition hat; also trennen sie sich morgens, zumindest in der Regel, stoßen abends wieder aufeinander mit dem für ihn, dem Vater, angenehmen Aspekt, dass sie, die Tochter, zwischenzeitlich die Unterkunft besorgt hat, er, der Vater, sich um nichts mehr kümmern muss; ich fabuliere einfach einmal so. Na klar, er lässt sich nicht lumpen, seine Praxis muss wohl gut abwerfen.

Elke und ich gehen prinzipiell zusammen, Altersunterschied unerheblich, so manche nervige Herbergssuche blieb gleichwohl existent. Zurück zur gelungenen Vater-/Kind-Beziehung. Ähnlich wie bei mir zu meinem Zweitgeborenen mit vielen gemeinsamen Touren per Auto, mit der Eisenbahn, mit dem Flieger, unter anderem als Begleitperson und Fahrer zu diversen bundesweiten Tennisturnieren, (er) als Kind, Jugendlicher und Erwachsener. Höhepunkt in 2005 die Route 66 in Amerika von Chicago aus gen Pazifik; andere Touren wie zu Stones-Konzerten oder zu Bayernspielen.

Warum erzähle ich das eigentlich? Natürlich auch, weil es um Dr. G. geht; interessant ist aber darüberhinaus ein folgender, für mich letztlich überraschender Aspekt. Vorbemerkungen. Seit der Jahrtausendwende treibt mich der Jakobsweg um. Sechs Jahre später dann mit Elke die Realisierung erstmals auf dem Camino Frances: Liebe auf den ersten Blick. Wenige Wochen nach unserer Rückkehr bringt Hape Kerkeling sein Buch Ich bin denn mal weg auf den Markt. Fulminante Pressereaktion, nur etwas abschwächend in den Folgejahren: Als wäre ganz Deutschland unterwegs auf dem Jakobsweg in Spanien. Mitnichten, die Zahlen des Pilgerbüros in Santiago sind unbestechlich. Das Buch ein Renner. Jedoch, nur die wenigsten lassen Taten folgen, vielleicht noch am ehestens in 2007 mit einem ausgesprochen starken prozentualen Anteil der Deutschen von 12,13%. In Zahlen: 13.875 registrierte Pilger von insgesamt gut 114.300 Pilgern. Tendenz sodann fallend, festgemacht zuletzt an 2023 mit einem Anteil von nur noch 5,53%, allerdings bei einem Gesamaufkommen von rd. 446.000 Pilgern. Warum ist das so? Meine Analyse. Der Weg ist schlichtweg zu anstrengend. Jeden Tag 15 bis 35 Kilometer im Schnitt gehen, für den Camino Frances zwischen 30 und 35 Tagen, schlechtes, stürmisches Wetter und glühende Hitze inklusive, 10-12kg auf dem Rücken, Übernachtungen in Jugendherbergen, so ihre Übersetzung der Begrifflichkeit Pilgerherberge. Nein, das ist nichts für mich. Die Wohlstandsbürger und Fans des Spaßmachers der Nation sitzen, so mein Eindruck, lieber auf dem Sofa, lesen sein Buch, sehen sich den – später herausgekommenen – Film an, fabulieren, erklären mir den Jakobsweg.

Und nun endlich mein Fazit. Ich sitze erstmals einem Menschen meines weiteren Beziehungskreises gegenüber, in diesem Fall einem Facharzt, der tatsächlich den Camino de Santiago selbst gegangen ist, dem ich, wollte ich es denn überhaupt, kein U für ein X vormachen kann. A la bonheur.

Los geht´s – Der Weg ist das Ziel

Beispielhafte Begegnung in Carrion de los Condes

Für den Peregrino autentico gilt nicht das Diktum „Der Weg ist das Ziel.“ Der Peregrino autentico kennt nur ein Ziel: das Grab des Apostels Jakobus in der Kathedrale von Santiago de Compostela – das Ziel seiner Pilgerschaft, seiner Wallfahrt, seiner Träume. Jedoch: An dieser Stelle geht es um Menschen, um Pilger, mit denen wir auf unserem Camino de Santiago, in Spanien wie in Portugal, gute Gespräche führten, manchmal aber auch nur aus der Distanz einige wenige Worte wechselten.

Ich beginne mit einem Duo: dem Engländer und dem Deutschen. Carrion de los Condes. Wir ergattern gerade noch zwei Plätze unter dem Sonnenschirm des Cafe`s mit dem tollen Blick auf die Iglesia Sta. Maria.

Zwei Pilger unterhalten sich, englisch, laut genug, dass wir mithören können. Sie reden die katholische Kirche schlecht: ihre Protagonisten, ihren Glauben, die „schlimmen“ Kreuzzüge werden für ihre Schlechtigkeit herbeizitiert, ein Verbrechen sei das gewesen.

Hier reden zwei Menschen miteinander, die Plattitüden austauschen, Halbwissen zum Besten geben: grausam. Sofort rattern meine Synapsen. Elke beobachtet mich, flüstert mir zu: Laß` das, misch` dich nicht ein. Sie kennt mich, kennt meine Gedanken: Wie paßt das eigentlich zusammen? Über jemanden auf das übelste herziehen, seine, in diesem Fall ihre Annehmlichkeiten aber gerne einpreisen, wie selbstverständlich in katholisch geführten Herbergen übernachten, die ganze Infrastruktur der Caminos gerne akzeptieren. Wer sie aufrecht erhält? Ist ihnen egal. Offensichtlich wie der Strom, der aus der Steckdose kommt. Ist ihnen eigentlich klar, dass sie hier nicht säßen, hätte es nicht die mittelalterlichen, katholischen Könige gegeben, die den Namensgeber des Camino nicht nur verehrten, sondern die Wege markieren ließen, für den Bau von zig Brücken, Hospitälern und Herbergen sorgten, Kathedralen, Kapellen, Stifte und Klöster inklusive? Die ihre Ritter anwiesen, für den Schutz der Pilger zu sorgen, Burgen bauen ließen, die Sarazenen zurückzuschlagen?

Warum also gehen sie überhaupt den christ-katholisch grundierten Camino de Santiago, wenn sie doch gleichzeitig die Kirche verachten? Klar, eine rhetorische Frage. Ist ja nicht das erste Mal, so einen Quatsch zu hören von Menschen ohne ausreichende Bildung. Ich warte ab, Elke wendet sich ab, macht mich auf den Reiter aufmerksam, der den Kreuzungsbereich queren will, dahinter die riesige Pilgerfigur ausgestattet mit allen Insignien, Kalebasse, Stab, etc. Meine Synapsen können nicht anders, ich lausche den beiden. Der Deutsche: Nein, ich bin nicht mehr in der Kirche, natürlich ausgetreten. Warum gehst du den Camino? Nein, nicht aus religiösen Gründen, of course not, was interessiert mich ein Jakobus! Die Knochen sind doch sowieso nicht echt. Alles Betrug.

Jetzt reicht es mir. Ich kann nicht anders. Mische mich ein, zugegebenermaßen nicht sehr elegant: Thats rubbish, you`re talking about. Gebe in knappen Worten meine Bedenken zu Protokoll. Entgeistert schauen sie mich an. Wie kann ich es wagen, ihnen zu widersprechen. Das sei doch Common sense. Nein, eben nicht, nur in ihren Kreisen. Erinnere sie an Papst Benedikt XVI., der die fortschreitende Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben konstatiert hatte, einhergehend mit einer radikalen Pluralität und einem Relativismus (anything goes), der die Grundwerte angreife. Was ich dagegen setze? Mein christliches Zeugnis: hoffentlich leuchtend und beständig.

Schnell merke ich, ich komme nicht weiter, meine wenigen Worte übersteigen, sorry für die Deutlichkeit meiner Worte, ihr intellektuelles Fassungsvermögen, wende mich ab, wünsche noch ein gequältes Buen Camino, immerhin, wende mich einem anderen Engländer zu, einem sympathisch wirkenden. Ich erkenne ihn, er hatte wenige Tage zuvor neben uns gesessen auf dem Kirchenvorplatz in Hornillos del Camino, eine Dose Bier in der Hand. Frage ihn nach der morgigen Etappe von Carrion de los Condes Richtung Calzadilla de la Cueza. In den Pilgerführern sei sie ja als sehr schwierig beschrieben, die Hitze soll unerträglich sein, keine Bäume, kein Schatten. Nichts da. Er will sie noch heute gehen.  „If you would see a skeleton, tomorrow, it would be mine“, seine lustige Antwort, beschreibt sodann die Strecke, grinst dabei vielsagend, als no mans land.

Unnötig zu erwähnen, es ist alles halb so schlimm. Zwei Liter Wasser, eine Mütze auf dem Kopf, das reichte uns einen Tag später, der wirklich unbarmherzig scheinenden Sonne zu widerstehen, fit genug, einvernehmlich in Calzadilla de la Cueza zu entscheiden, weiterzugehen, über 10 Kilometer bis nach Terradillos de los Templarius zur Herberge gleichen Namens, insgesamt lockere 27 Kilometer für den Tag; vgl. Etappe 19.

Später werden wir den sympathischen Engländer wieder treffen, in Leon, so ganz anders, nicht mehr wie ein Hans im Glück, tief versunken im Gebet: anscheinend seine Vorbereitung, würdig die heilige Kommunion zu empfangen. Besides, wie viele Gläubige gehen heuer wie selbstverständlich nach vorne, lassen sich die Hostie in die Hand geben (gut, dass sich die Mundkommunion mehr denn je durchsetzt), stecken sie im Wegdrehen in den Mund, gehen zu ihrer Bank, setzen sich, schnattern weiter. Wissen sie eigentlich, was sie da gerade gemacht haben? Den Herrn verunglimpft, verunehrt. An anderer Stelle dazu mehr.

In meiner nächsten Geschichte werde ich das spontane Wirken eines US-amerikanischen Deacons beschreiben, eines Pilgers und katholischen Diakons. In Leon auf dem Vorplatz der Kathedrale. Paul aus Toronto wird das Ganze komplettieren. In Morgade, am Kaminfeuer. Seine Geschichte machte betroffen und gleichzeitig hoffnungsvoll.

Leon – Ein Diakon spendet den Segen Gottes

Leon. Kathedrale Santa Maria. Rechtzeitig streben wir der Seitenkapelle zu, mit Argusaugen wachen die Bediensteten des Doms darauf, dass ich keine Fotos schieße: bitte nur bei der Besichtigung. Schnell füllt sich die Kapelle, nicht nur Pilger, viele Einheimische dabei. „Du, Elke, kniet dort nicht der Pilger, den wir schon in Atapuerca gesehen haben?“ – „Ja, wirklich, er hat ein dickes Gebetbuch in der Hand. Es muss ein Schott sein.“ *) Kurz darauf wird er vom Küster herausgebeten. „Siehste, er ist Priester, wie Pater Adalbert.“  Tatsächlich, er sekundiert dem ortsansässigen Pfarrer beim Gottesdienst, teilt die Kommunion aus. (im Foto links zu sehen)

Es ist schon gediegen, wen man sonst noch so hier sieht. Den Engländer von Carrion de los Condes, tief versunken im Gebet, auch noch nach Beendigung der Messe, den Peter von Sahagun und einige seiner Mitstreiter, und, und, und.

Vorplatz der Kathedrale. Minuten später, Elke und ich unterhalten uns mit Peter von Sahagun, sehe ich den Pilger-Co-Zelebranten an der Kirchenmauer stehen, etwas in sein Notizbuch schreibend. Ich natürlich sofort zu ihm hin: „May I ask you something?“ – „Yeah, for sure.“ „Are you a priest, where do you come from?“ Sodann schält sich heraus, er ist Amerikaner, nicht Priester, aber Diakon, zeigt mir sofort seinen kirchlichen Ausweis; er ist, wie wir, Peregrino auf dem Camino de Santiago. Ich bedanke mich für das ausgesprochen freundliche Gespräch. Offensichtlich hat er sich sehr gefreut, von mir angesprochen worden zu sein, von jemandem, der seinen katholischen Glauben lebt, ihn nicht versteckt, über ihn spricht, nicht verhehlt, Papst Benedikt XVI. zu bewundern: völlig unverständlich für die meisten, auch und gerade für die Taufschein-Katholiken. Kaum bin ich zu Elke zurück, will just das gerade Erlebte erzählen, schon steht der Deacon vor uns, stelle ihm Elke vor; unterhalten uns ein wenig über den Camino Frances, über seinen, über unseren. Jetzt passiert etwas sehr Überraschendes, sehr Schönes, sehr Berührendes – wie weiland auf dem Weg nach Torres del Rio (Stichwort: Pater Adalbert; später mehr). Der amerikanische Deacon legt seine rechte Hand nacheinander auf Elkes wie auf meine Schulter, spricht einen englisch gesprochenen Segen, wir bekreuzigen uns, er wünscht uns alles Gute, verschwindet. Der Platz vor der Kathedrale ist voll von Menschen, es stört uns überhaupt nicht, auch nicht Peter aus Sahagun. Beeindruckend! 

*) Der „Schott“ ist ein ausführliches Messbuch an sich für jeden Priester; herausgegeben seit 1483. Benannt in moderner Zeit nach dem Benediktinermönch Pater Anselm Schott (1843-1896). Das Messbuch verzeichnet heute – nach der (unsäglichen) Liturgiereform nach dem 2. Vatikanischen Konzil 1962-65 – die hauptsächlichen Texte in einer verkleinerten Form mit eigenen deutschen Übersetzungen der lateinischen Texte und Erklärungen zur Liturgie des Kirchenjahres. Es soll den Laien ein bewussteres Mitfeiern der Heiligen Messe und des Kirchenjahres ermöglichen. Es gibt auch einen sog. „Traditionellen Schott“ – ein Volksmissale – für die Anhänger der „Alten Messe“, auch Missa Tridentina genannt oder Mass of the Ages; im wesentlichen fußend auf dem Missale von Anselm Schott, der ja nur die Missa Tridentina kannte.

Begegnungen in Fromista und Mansilla de las Mulas

Ein koreanischer Ex-Minister und eine Olympiasportlerin beeindrucken

Elke entfacht die Herzen unserer Koreaner. Wie macht sie das? Ich erkläre es. Es ist ganz einfach. Ich erinnere an das Tage zuvor spät nachmittags in Fromista eingenommene Pilgermenü. Einer der Koreaner spricht mich an, damals wie heute. Warum? Es scheint Elkes liebevolle Art zu sein, wie sie sich mir gegenüber verhält. Erzählt uns von seinen Deutschkenntnissen, dass er ständig sich mit den Präpositionen auseinandersetzen musste, also: für, durch, mit, auf. Location Herberge Jardin del Camino, Mansilla de las Mulas. Gerade als wir uns an den einzigen freien Tisch setzen wollen, kommt Herr Choi, bittet uns höflich, sich doch zu ihnen zu setzen. Seine beiden Freunde machen umgehend Platz, gehen zum Nachbartisch: ich bin irritiert. In der Bar von Religio hatten wir uns noch zugenickt, neben Herrn Choi und Begleiter noch die vier sehr jungen Koreaner: drei Frauen, ein Mann.

Was soll ich sagen, es entwickelt sich ein ausgesprochen angenehmes, liebes, informatives Gespräch, lernen einiges von/über Korea. Wie wir später von einer Holländerin erfahren, werden die Mitpilger aufmerksam, so nach dem Motto, warum unterhalten die sich so lange mit den Koreanern. Über eine Stunde wird es gedauert haben. Ich denke, ich stelle die Beiden erst einmal vor. Sie, eine groß gewachsene, gut aussehende Frau, durchtrainiert, sehr schlank, heißt Kim, Young Ja. „Took part in the twice Olympic Games ‐`68 — Mexico Olympic and `72 Munich Olympic. Korea. Volleyball player.“ So schreibt es mir der Herr Choi eigenhändig auf. Das heißt, und ich habe es natürlich via Internet verifiziert, weil ich Genaueres wissen wollte, Frau Kim war eine aktive Volleyball‐Nationalspielerin von (Süd‐) Korea. Die Mannschaft belegte vordere Plätze. Leider spricht sie kein Englisch. Kim ist der Surname. Was ist mit ihm? Wie das so meine Art ist, frage ich sehr gerne, schon von Berufs wegen. Ich notiere diesmal selbst: Name: „Choi, Chang‐shin, deputy minister of culture and sports; secretary general of the organizing committee of 2002 Fifa World Cup.“

Wahnsinn, an unserem Tisch sitzt ein ehemaliger stellvertretender Minister eines der wichtigsten Staaten des asiatischen Raumes, der gleichzeitig die Fußballweltmeisterschaft 2002 Korea/Japan managte. Im Internet konnte ich, was nicht einfach war, folgende Notiz finden, das heißt eine Rede, die Mr. Choi Ende der Neunziger in Japan gehalten hat. Vorab, man muss wissen, Japan und Korea waren Erzfeinde, ich denke, noch schlimmer ausgeprägt, als es jemals zwischen Deutschland und Frankreich war.

Die Japaner hatten das Land während des 2. Weltkriegs auf das Schlimmste unterjocht. Ich zitiere aus dem Internet: „Overall, we are satisfied,“ deputy sport minister Choi Chang‐shin told MBC‐TV in Thursday. „We are especially happy with the official name of the tournament, which puts South Korea ahead of Japan.“ Ich denke, jeder weiß, wovon er hier spricht. Ich stehe auf, verneige mich, versuche die typisch koreanische / japanische Ehrerbietung einzunehmen. Mrs. Kim, Young Ja strahlt.

Rasch schält sich heraus, alle vier sind gläubige Christen, Presbyterian Church. Seit 25 Jahren ist Herr Choi Ältester, leitet eine Presbyterian-Kirche, der er streng vorsteht. Jeden Morgen betet er mit den Studenten. So müssen sie das gesamte Eingangskapitel des Evangelisten Matthäus, also den Stammbaum Mt 1‐17, auswendig lernen, auch betroffen seine Hausangestellten Housewife plus Mannschaft. Nur so würden sie das Neue Testament Jesu Christi richtig verstehen, also im Rückgriff auf das Alte Testament. Als ich ihm signalisiere, dass bei der Aufzählung der Generationennamen auch vier Frauen dabei sind, ist er baff vor Staunen: Tamar (Frau von Juda), Rut (Urgroßmutter von König David), die Frau des Urija (Mutter von König Salomo) und last but not least Maria als Mutter des Herrn. Choi ist Politiker. Die Frage nach dem Verhältnis Ukraine / Polen und Politikern Westeuropas mochte er nicht beantworten.

Etwas philosophisch wird es, als ich ihn nach den konfessionellen Gegebenheiten Koreas befrage. Seine Familie sei seit über einhundert christlich. Das Land weise folgende Struktur auf: 30% Christen, 30% Buddhisten, der Rest huldige Konfuzius. Seiner Meinung nach hätten ihm die Buddhisten bis heute noch keine schlüssige Erklärung für das Entstehen unseres Erdballs gegeben. Übliche Antwort: Schulterzucken. Für ihn sei es selbstverständlich, dass allein Gott die Welt erschaffen habe. Überdies suchten die Buddhisten nur gelegentlich ihre Gotteshäuser auf. Alle wichtigen Tempel lägen weit draußen in und auf den Bergen versteckt, teils schwer zugänglich.

Auf den Jakobsweg seien sie gekommen, weil eine berühmte TV‐Moderatorin Koreas hierüber berichtet habe. Jeden Morgen, hier auf dem Camino Frances, gibt Herr Choi eine Tageslosung heraus, das heißt, sie setzen sich etwas abseits des Weges, singen und beten, zitieren Verse aus der Bibel. Währenddessen sitzt Elke daneben, lächelt, lässt sich Passagen von mir übersetzen, fragt nach, wie Frau Kim. Die kleine Frau neben dem großen Mann. Ich ärgere mich noch heute, dass ich auf Frau Kims Frage, ob wir auch mal beabsichtigten, nach Korea zu kommen, ich dieses verneinte. Welch ein Fauxpas.

Als wir uns zwei Stunden später nach dem Pilgermenü verabschieden, das heißt, die Koreaner stehen auf, wir sitzen mit einer Holländerin am Nachbartisch, kommen auf uns zu, nehmen Elke in den Arm, drücken sie herzlich, geben mir die Hand: „Good by.“ Ich: „It was a great pleasure and honor for me to meet you.“ Sie wissen, dass wir in Leon uns einige Tage Ruhe, Erholung gönnen werden. (…)  Als er dann, quasi mit den letzten Worten, hört, dass wir eine ökumenische Ehe führen, fragt er erstaunt nach, zu welcher Kirche wir denn sonntags gingen. Elke hatte nichts dagegen, dass ich die Frage ehrlich beantworte. Für mich als Papst Benedikt-Fan wichtig: er denkt durchaus positiv über die katholische Weltkirche und den Papst; letzterer könne / solle durchaus das Weltchristentum repräsentieren. Elke freut sich, als er schlussendlich auf Martin Luther zu sprechen kommt; ihr Herr Luther. Vielleicht halten wir den Kontakt aufrecht. Alles Gute, Mrs. Kim und Mr. Choi.

Morgade am Kamin – Ein Kanadier löst sein Versprechen ein

Kurz vor 3Uhr nachmittags. Staunend blickt Elke auf den völlig beschmierten Kilometerstein K 100. Jetzt `mal ehrlich. Warum muss es diese Schmierfinken geben? Wenigstens haben sie die Steinchen darauf gelassen. Wie auch immer, vier Tage werden wir wohl noch bis Santiago brauchen; das sollte zu schaffen sein, pro Tag 25 km. Freuen uns. Jahre später wurde der 100-km-Stein an anderer Stelle, der angeblich korrekten, verlegt.

Nur noch eine knappe Stunde bis zu dem urigen Hostal, von geballter Frauenpower gemanagt. Ich spreche von Morgade. Von vier jungen Frauen, die eigenhändig mehrere Terrassenplatten verlegten, der Vater gab lediglich Tipps, die Mutter transportierte die Platten vom Grundstück gegenüber mit einem kleinen Radlader. Alle Achtung. 

Zeit für das Pilgermenü. Wir gehen in den Aufenthaltsraum, sehen einen drahtigen, nicht mehr ganz jungen Mann am Kamin sitzen. Es ist Paul aus Toronto. Er lädt Elke und mich ein, uns doch zu ihm zu setzen. Das lodernde Kaminfeuer inspiriert, die richtigen Fragen zu stellen, das Glas Rotwein in der Hand. Er erzählt uns seine – bewegende – Geschichte. Paul geht den Camino aus Dankbarkeit seinem Herrgott gegenüber. Während ich diese Zeilen, jetzt nach knapp 18 Jahren noch einmal zu Papier bringe (in Kurzform bereits seit vielen Jahren auf meiner Webseite, Etappe 30), stutze ich, drehe den Lautstärkeknopf von Radio Horeb. Es läuft der Podcast Lebenshilfe. Ein Mann mittleren Alters schildert seine Situation, warum er vor wenigen Jahren den Camino gegangen sei, wie Paul aus Dankbarkeit, nicht wegen zweier überstandener Herzinfarkte, nein, wegen eines überwundenen Krebses, der ihn zuvor bis an den Rand der Verzweiflung gebracht hätte, und wie er auf dem Camino Frances seinen Glauben an Jesus Christus vertiefen durfte. Es lohnt, in den Podcast hineinzuhören.

Zurück zu Paul aus Toronto, drahtig, 62 Jahre alt. Ich hake ein, erzähle ihm von unseren Kanada-Aufenthalten, Ost- wie Westküste, von der Zugfahrt mit der Canadian Railway Company (Vancouver nach Alberta), von Toronto im Regen, von unserem Helikopterflug über Kanada und Alaska. Das lockert die Gesprächsatmosphäre weiter auf. Paul geht jetzt ins Detail, erzählt von seiner anstrengenden Arbeit als Sozialarbeiter, mental wie physisch; seine Klientel nicht einfach, er reibe sich auf. Was Wunder, dass ihn ein Herzinfarkt heimsucht, er macht weiter, unverdrossen, fühlt sich den Menschen, die er zu betreuen hat, verbunden, will nicht aufgeben, und das Ergebnis? Ein zweiter Herzinfarkt.

Paul beschließt, den Jakobsweg zu gehen, wenn sich Gott noch etwas Zeit lässt, ihn noch nicht jetzt heimholt, ihn gesunden lässt; gibt sein Versprechen ab, a vow, a pledge, an oath or a promise. Who knows? Gesagt, getan. Paul entscheidet sich für den Camino Frances, welchen denn sonst. Seine Familie insistiert, dass ihn wenigstens die Tochter begleitet, sicherheitshalber, seine vormalige gute Kondition sei ja noch nicht ganz erreicht. Die Zeit, über eine Stunde, war wie im Fluge vergangen, Paul fotografiert uns, stellt uns kurz seine Tochter vor, sie hatte derweil die Abendsonne genossen, verabschieden uns, setzen uns an den gedeckten Tisch, ein hervorragendes Menue, der gutschmeckende Rotwein nicht allzu teuer. Später werden wir ihn und seine Tochter in der Kathedrale von Santiago wieder treffen. Beide hatten einen Tag mehr gebraucht.

Geschichten, die nur der Camino schreibt. In Rabanal del Camino hatten wir von einer ähnlichen Story gehört, von einem Japaner aus Kobe. Seinem Gelübde, es ging um Krebs, ließ er ebenso Taten folgen. Bevor er nach Europa aufbrach, hatte er mehrere Hundert Kilometer auf der heimatlichen Insel trainiert. Jedoch: der Camino de Santiago sollte es schon sein. Nur hier fühle er sich Sant`iago, über dem heiligen Apostel Jakobus letztlich dem Herrgott nahe. Auch ihn werden wir später in der Kathedrale in der Pilgermesse sehen, andächtig auf den Beginn des Gottesdienstes wartend. Neben ihm „Bunter Vogel“. Sie wird uns an dieser Stelle noch beschäftigen.

Nachsatz zu Radio Horeb, zu Frank aus München. Offensichtlich hatte Gott, hatte Jesus Christus ihn auserwählt und ermuntert, ausgerechnet einer amerikanischen Mitpilgerin von seinen Erlebnissen, von seiner Vita zu erzählen. Sie ist jetzt auf dem nordamerikanischen Kontinent präsent, worüber er sich sehr freut, denn, so ist er sich sicher, die Geschichte mache Mut. Die Mitpilgerin hatte nämlich von ihm ihrem zu Hause gebliebenen Freund berichtet, der erzählte sie weiter seinem Großvater. Resultat? Großvater und Freund wollten unbedingt den Mann aus Deutschland kennenlernen, von seiner tiefen Beziehung zu Jesus hören, von seinen Caminoerlebnissen. Der spätere Verlobte der Pilgerin, er wird seine Freundin in Santiago abholen, steht Tage später direkt vor ihm, auf der Plaza del Obradoiro, vor der Kathedrale, umarmt ihn … „Thanks“.

Villacha. Kaum zu glauben, was der Süd-Afrikaner uns erzählt

Kaum zu glauben, was der gebürtige Südafrikaner uns erzählt hatte. Kurz vor Portomarin, in Vilacha, einem kleinen Dorf, war es gewesen, um 7Uhr50.

Kurz ein Blick zurück nach Morgade. Noch angetan von dem Gespräch mit Paul aus Toronto, er hatte uns sehr eindrücklich von seinen zwei Herzinfarkten erzählt und seinen Beweggründen, den Jakobsweg zu gehen, an anderer Stelle mehr hierüber, verlassen wir Morgade bereits gegen viertel vor sechs. Unser Ziel, wie sich später herauskristallisieren wird, wird Airexe sein, ein ebenfalls kleiner Ort. Kurz vor Portomarin, die berühmte im See versunkene Stadt, wir sind mittlerweile etwas mehr als zwei Stunden unterwegs, baut sich vor uns, ich spreche von Vilacha, gleichermaßen ein kleines Dorf, ein wuchtiger Eingangsbereich zu einem mehr oder weniger versteckt liegendem Anwesen auf. Über dem geöffneten zweiflügeligen Tor die südafrikanische Flagge, links die spanische, die rechte kann ich nicht so recht einordnen; vielleicht die des Anwesens. Rechts vom Tor einige Stühle, im Torbereich ein Getränkestand, genauer gesagt, ein Mann mittleren Alters bietet uns seinen Kaffee an. Natürlich sagen wir zu. Geben gerne eine Donation, eine Spende. Der heiße Kaffee kommt uns nämlich gerade zupass, wie der Norddeutsche zu sagen pflegt.

Nach wenigen Sekunden das erste Gespräch; die Flaggen laden gerade dazu ein. Er sei Südafrikaner, der Liebe wegen in Spanien gelandet. Jeden Morgen baut er vor seinem Haus den Getränkestand auf, bietet Kaffee an, gegen eine freiwillige Spende. Ich versuche es mit Englisch, er antwortet mit einigen Brocken Deutsch. Na klar, er hat uns als Deutsche identifiziert. Wer dann nicht nachfragt, warum ein Südafrikaner etwas Deutsch spricht, der muss schon Kontaktschwierigkeiten haben. Er kenne das „schöne Bayernland“, habe dort einige Jahre bei einem großen Automobilhersteller gearbeitet. Wann hat man schon die Gelegenheit, einen gebürtigen Südafrikaner zu befragen? Nach Mandela, nach Süd-Afrika itself, and so on.

Er weiß Bescheid, hält seine Kontakte zu seinem Heimatland aufrecht. Und nun kommt ein Hammersatz, den man symptomatisch auf andere Bereiche ausdehnen kann *). Ich spreche von mangelndem Interesse der westlichen Welt an Themen, die doch so arg weit wegliegen, geografisch. Kurz gesagt, ich meine den quasi vergessenen Kontinent Afrika.

O -Ton: „In Kapstadt gibt es täglich mehr Tote als im Irak-Krieg. – Keiner spricht darüber, die Weltöffentlichkeit interessiert es nicht.“ Meine Sensoren, meine Synapsen interagieren. Um die Worte des Südafrikaners kontextual einschätzen zu können, muss man wissen, dass wir ihn im Mai 2006 sprechen, anlässlich unseres ersten Caminos. Der Irakkrieg hatte seinen Anfang in 2003 genommen und war in 2006 noch voll am Gange. Jetzt, wo er es sagt, wird mir klar, er spricht die Wahrheit. Ständig werden wir mit Meldungen über den Irakkrieg überschüttet. Ich frage nach, ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen, dass die Mordrate in Kapstadt so hoch sein soll, höher in der Zahl der Toten als im Irakkrieg. Doch, es dürfte stimmen. Ich habe recherchiert. Laut  Webseite Travel-Book Numbeo-Ranking vom 10.03.2023 tauchen fünf (5) Städte Süd-Afrikas im Ranking der zwanzig (20) weltweit gefährlichsten Städte auf. Der Etat des derzeitigen deutschen Entwicklungsministeriums weist einen Betrag von 33,9 Milliarden Euro aus, unter anderem für Projekte in Indien und China, unsere Hauptkonkurrenten auf dem Weltmarkt.

Vier Monate später im September 2006 wird Wladimir Putin, der russische Präsident, in Kapstadt landen, Gespräche mit seinem Kollegen Thabo Mbeki, direkter Nachfolger Nelson Mandelas, führen. Wer sind die Akteure gestern wie heute? Nach wie vor Russland und seit Jahren auch und gerade China, das sich große landwirtschaftlich genutzte Felder Afrikas sichert, aufkauft, verwertet.

Nevertheless, wir genossen nicht nur den Kaffee, verabschieden uns herzlich, klicken noch einmal auf den Kameraauslöser, froh darüber, dass die nach uns kommenden Pilger wortlos den Getränkestand passiert hatten, eilen weiter nach Portomarin, zur versunkenen Stadt.

*) Der Leser wird überrascht sein, wenn ich an dieser Stelle die weltweiten Christenverfolgungen thematisiere. Viele mögen es nicht glauben, sie haben im 21. Jahrhundert größere Ausmaße angenommen als je zuvor, als damals im Römischen Reich unter Nero, Decius und vor allem Diokletian bis in das 4. Jahrhundert nach Christus. Besonders die europäische, antichristlich eingestellte Presse nimmt von ihnen keine Notiz, wie übrigens auch viele Kirchenvertreter sie übergehen. Mehr über die weltweite Christenverfolgung heute.

Harold aus Calgary hilft. Völlig uneigennützig

Vom Camino Frances zum Caminho Portugues, Mai 2011. Kurze Einstimmung: Einige Tage Sightseeing in Lissabon. Mit dem Mietwagen über Batalha (Klosterruinen) nach Fatima (weltweit einer der bekanntesten Marienwallfahrtsorte; für uns ein Muss; ich zehre heute noch von den tollen Erlebnissen und Eindrücken, der heiligen Messe, dem Kreuzweg, etc.). Nach zwei Tagen Weiterfahrt zum Airport nach Porto. Von dort Aufnahme unserer 11-tägigen Pilgertour nach Santiago de Compostela. Vielleicht werde ich noch zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen.   

Sao Roque im Mai. Eine anstrengende Tagesetappe liegt hinter uns. Nur 20,4 km von Ponte de Lima nach Sao Roque und doch so grenzwertig, weil zum Cruz dos Mortos resp. zum Portela Grande: Erschöpfung pur. Beim abendlichen Dinner mit Harold und Irene aus Calgary ist alles wieder vergessen. Die Wirtin hatte einen Fahrdienst zum Restaurant organisiert und schon bildeten sich drei Gruppierungen: Die fünfköpfige Familie aus der Eifel; die evangelikale Gruppe, fast alle tragen ein großes Kreuz sichtbar um den Hals, beim abendlichen und morgendlichen Gebet wollen sie allerdings unter sich sein; und das ausgesprochen nette Ehepaar aus Kanada mit uns zusammen am Tisch.

Es ist nicht allzu schwer, mit den beiden ins Gespräch zu kommen. Der emeritierte Professor, Harold sein Vorname, ist knapp 80 Jahre alt, ein drahtiger Typ mit toller Kondition, kommt ursprünglich aus Manchester / England, wohnt und arbeitet seit vielen Jahren in Calgary / Kanada. Seine über 20 Jahre jüngere Frau, Irene, in leitender Position in der Altenpflege (für Todgeweihte), kommt aus Deutschland, hat Verwandte in der unmittelbaren Nähe unseres Wohnortes; sie spricht natürlich Deutsch mit uns, Harold nur Englisch. Harold ist ein Typ, kann so toll erzählen, von seinen zig Jakobswegtouren, viele Tausend Kilometer dürften wohl schon zusammengekommen sein. Seit 1957 ist er vom Camino gefangen. Ein Freund in Logrono hatte ihn neugierig gemacht.

Harold erzählt von seinen 6 Kindern, 15 Enkeln und 13 Ur-Enkeln; nennt mich Al Capone. Warum? Ich hatte ihm von meinem mehrwöchigen Sprachurlaub in River Forest, nahe Chicago, erzählt, dem Wohnort von Al Capone, dem Mafioso schlechthin. Macht mir schlussendlich aber Komplimente, was meine English-skills angeht, was ich eigentlich nicht glauben mochte. Ich erinnere an Shaun aus Denver / USA, den wir auf dem Teilstück des Camino Frances von Villafranca Montes de Oca nach Atapuerca kennenlernten; er sagte das gleiche in Fromista; Amerikaner und Kanadier sind halt freundlich. Gut, dass wir Irene und Harold über den Weg gelaufen sind. Harold wird mir nämlich noch aus einer selbst verursachten Patsche helfen.

Irgendwo auf dem Weg. Ich zu Elke: „Sind das da nicht vorne die Kanadier?“ „Ja, ja“, sagt sie. „Gleich werden wir sie erreichen.“ Und das ist auch gut so. Gedanklich zurück, kurz vor Arcade, wir betreten ein Restaurant, eine Bar, sehen die Kanadier, setzen uns zu ihnen. Alle freuen sich, erzählen einander kurz die letzten Erlebnisse. „I lost my cap”, höre ich mich sagen. Harold: “Oh my goodness, that`s bad, I have a cap for you, I don’t need it anymore, it`s my second? Please, wait, let`s go to the next snackbar and then you`ll get the cap.” – Wahnsinn, er gibt mir sein zweites Käppi, zumal ein Geschenk aus Brasilien, und dann steckt er mir noch einen Sticker daran von Jasper/Columbia/Canada, wo er einmal gearbeitet hatte; und wir in 1997 urlaubten. In Cesantes, eine Etappe zuvor, muss es gewesen sein. Dort im Hotel muss ich mein Käppi liegengelassen haben. Wo so schnell auf dem einsamen Weg um diese morgendliche Zeit ein neues bekommen? Die Sonne sticht mittlerweile unbarmherzig. Sonnenbrand und/oder Sonnenstich!? Ich will es mir gar nicht erst ausmalen. Und nun hilft mir ein völlig Fremder aus Übersee, er will auch keine Gegenleistung. Wie soll man das bloß bezeichnen?

Uneigennützige Hilfe. Als Pilger allemal. Mir kommt eine Geschichte in den Sinn, aufgeschrieben vom Autor des ersten Pilgerführers, dem Liber Sancti Jacobi, auch Codex Calixtinus genannt. Er zitiert eben jenen Papst Calixtinus II. mit den Worten, eingehend auf Die eigentliche Motivation des Pilgers: Der Weg des Pilgers sei für den Rechtschaffenen die Absage an Laster, die Abtötung des Leibes, die Vergebung der Sünden, die Buße der Büßer, der Weg der Gerechten, die Liebe der Heiligen, die Hoffnung der Auferstehung und der Lohn der Seligen, die Abwendung von der Hölle und die Versöhnung mit dem Himmel. Der wahre Pilger teile mit den Armen und den bedürftigen Pilgern. Die das nicht täten, seien keine echten Pilger – sondern Diebe und Banditen Gottes. Im weiteren Verlauf seiner Predigt verweist der Papst auf die Apostel, die weiland von Jesus ja ohne Geld auf die Missionsreise geschickt worden seien.

Wäsche waschen und fürs Trocknen sorgen. Den Tag über gab es wenig Ordentliches zu essen. Das Frühstück im Hotel war auch nicht gerade üppig: Ein Croissant, eine Tasse Kaffee (con leche), ein Glas O-Saft, etwas Marmelade und Butter. Diese Variante kennen wir doch. Und das in diesem guten Hotel? Strange! Harold und Irene erging es nicht anders. Sie betteten ihr Haupt gleichermaßen im Virgen. „Which coincidence“, I said to Harold. Das Frühstück nehmen wir wie gehabt gemeinsam ein.

Caldas de Reis. Die erste Pause gibt es bereits nach einer Stunde. Dort treffen wir sie wieder, parlieren. Harold erzählt von seiner Lehrtätigkeit, er unterrichtete an der Universität von Calgary Englisch und Spanisch. Zum Aufbruch (wir gehen in der Regel zumeist alle getrennt, treffen uns später nicht abgesprochen) gibt er uns einen guten Tipp mit auf dem Weg; nur für den Fall, falls wir uns aus den Augen verlören. In Padron sollten wir unbedingt Pepes Bar aufsuchen, er öffne morgens bereits um sechs; die Croissants einfach delicious. Das ist eine gute Nachricht. Wir alle wollen nämlich früh starten. Immerhin sind es fast 26 Fußkilometer bis Santiago de Compostela – mit mehreren nicht zu verachtenden Steigungen, und die wollen erst einmal überwunden sein. Just, als wir um 6:40 Uhr Pepes Bar verlassen, es ist noch dunkel, gibt’s ein lautes Hallo mit Harold und Irene. Sie waren diesmal später aufgestanden, wollen sich Zeit nehmen. Es wird – leider – das letzte Hallo sein, das letzte Aufeinandertreffen mit diesen liebenswürdigen Pilgern aus Kanada. Wir werden sie nicht mehr treffen. Schade. Spätere Nachforschungen, beide per Email kontaktieren zu können, uns noch einmal auf diesem Weg für seine Hilfestellung und ihre Wegbegleitung zu bedanken, zeitigten keinen Erfolg. Ob er wohl noch lebt? Harold dürfte jetzt über 91 Jahre alt sein. Ich wünschte es ihm. So ein vitaler Typ.  

Exkurs. Begegnung mit dem US-amerikanischen Pulitzer-Preisträger und Reiseschriftsteller James A. Michener

„Und während ich stand und schaute, legte ich fast unbewusst den Arm um die steinerne Schulter Santiagos, meines Namenspatrons, des Schutzheiligen Spaniens.“ – James A. Michener

Wer sich für spanische Geschichte interessiert, damit für den Camino de Santiago, und dies nicht aus dem Blickwinkel des Mainstreams tun will, der wird James A. Micheners Buch aus 1968/69 Iberia. Reisen und Gedanken lesen wollen. Es wird nicht einfach sein, es sich zu besorgen. Copyright in Deutschland by Random House. Dromerische Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München, 1969. James A. Michener (1907-1997) war ein US-Schriftsteller von Weltruhm, Pulitzer-Preisträger. Seine Reiseberichte gelten als gut recherchiert

Im XIII. Kapitel schreibt der Autor ausführlich über Santiago de Compostela, wie über seine Wallfahrt im Sommer 1966 von Pamplona aus, eingedenk seines Gelübdes, nach der Genesung seines schweren Herzanfalls in 1965 nach Santiago zu pilgern. Sein Buch endet mit den Worten: „Und während ich stand und schaute, legte ich fast unbewusst den Arm um die steinerne Schulter Santiagos, meines Namenspatrons, des Schutzheiligen Spaniens.“

Auf den vorangegangenen Seiten geht Michener sehr eindrücklich und ausführlich auf die spanische Geschichte ein, beschreibt berühmte Gestalten, nähert sich den Protagonisten des Spanischen Bürgerkriegs, der Re-Conquista, der Schwarzen Legende, etc., ist begeistert von den zauberhaften maurischen Palästen und Gärten von Cordoba, Sevilla und Granada, nicht weniger von den verschiedenen Landstrichen Spaniens, den hitzeflimmernden Hochebenen Kastiliens undsoweiterundsofort; kurzum vom im ursprünglichen Wortsinn „eigenartigsten“ Land Europas.

Auszug Seite 137: „Einst wurde die Kluft (zwischen Moslems und Christen) durch eine in der Moschee (von Cordoba) aufbewahrte Reliquie noch vertieft: Mohammeds Arm. Es war der heiligste Gegenstand im ganzen moslemischen Spanien, den die maurischen Feldherren anriefen, ehe sie gegen die Christen loszogen. Mohammeds starker Arm flößte den Muslimheeren Kampfesmut ein, schreckte die Gegner und siegte fast ein Jahrhundert lang in allen Schlachten – bis dann die Christen in ihrer Not einen mächtigen Beistand fanden, der ihnen Unbesiegbarkeit verlieh.“ (Anm.: Santiago Matamoros)

Auszug Seite 149 zur Alhambra von Granada: „Nur zwei kleine Details möchte ich erwähnen.  In einer Nische entdeckte ich zu meinen Vergnügen die Jakobsmuschel als Schmuckelement, das Wahrzeichen jener Macht, die den Islam aus Spanien vertreiben sollte. Da war sie in den Palast mit eingefügt, gerade als hätten die Mauren ihr Schicksal schon geahnt.“

Warum diese beiden Zitate? Sie zeigen, dass es sich lohnt, sich einmal mit der Gedankenwelt eines anerkannten Schriftstellers auseinanderzusetzen, der eben nicht mainstreamkonform dachte und schrieb, der allerdings dafür verschiedene Denkprozesse durchlief (beschrieben im letzten Satz), unterschiedlichen Ansichten auf sich wirken ließ, verglich, vor Ort recherchierte, zu eigenen Konklusionen kam, nichts nachplapperte.

Michener durchlief eine Metamorphose: Vom Bewunderer der Alhambra analog der ihn zunächst prägenden Werke der Schriftsteller Alexander Slidell Mackenzie (1803-1848) und Washington Irving (1783-1859), über die Besuche Spaniens, (erstmalig in 1932) und dem Studium konkurrierender  Werke (zum Beispiel der Schriftsteller vom Range eines Louis Bertrand (1866-1941; Mitglied der Akademie francaise) und Sir Charles Petrie (1895-1977) –  The History of Spanien –), bis hin zu selbst eruierten neuen Erkenntnissen, die heute nicht mehr Gegenstand der Diskussionen sind. Warum? Weil political incorrect. Die Figur des Matamoros in der Kathedrale von Santiago de Compostela wurde zwischenzeitlich (2021) entfernt.

Los Arcos – Torres del Rio. Pater Adalbert kehrt um

Nun muss ich endlich von einem unserer intensivsten Erlebnisse erzählen. Ein Priester spendete uns beiden ganz allein seinen Segen – auf der Straße, kurz vor Torres del Rio, auf der Etappe von Los Arcos über Viana nach Logroño. Gestern war es, in der Kirche in Los Arcos. Der Co‐ Zelebrant outet sich deutschsprechend. Was liegt da näher, ihn tags darauf auf dem Camino anzusprechen. Nein, er ist kein Deutscher, er ist Tscheche, ist Benediktinerpater in einem Kloster nahe Prag, hat diesen Pilgerweg von seinem Prior zum 40 zigsten Geburtstag geschenkt bekommen. Wir gehen zusammen weiter, erzählen von einander, von den vielen Pilgern in der gestrigen Pilgermesse in Los Arcos. Für mich insoweit überraschend, als dass sich der gute Besuch auf dem Weg nach Los Arcos überhaupt nicht abgezeichnet hatte. Im Gegenteil: Nein, ich gehe nicht aus religiösen Gründen, mit der Kirche habe ich nichts am Hut, undsoweiterundsofort. – Davon, dass Elke und ich mehrere Benediktinerklöster und -abteien kennenlernen durften. Stellvertretend nenne ich dasjenige von Tettenweis (Frauenkloster) und die berühmte Abtei von Ottobeuren. Ettal und Niederaltaich in Bayern, Gerleve bei Münster, Maria Laach, südlich Bad Neuenahr (Refugium von Konrad Adenauer im Zweiten Weltkrieg) und Münsterschwarzach bei Würzburg, u.a.m. verschweige ich. Pater Adalbert ist sehr freundlich, passt sich unserem Schritttempo an.

Aber nein, das macht doch keinen Sinn. So ungefähr nach ca. 20 Minuten merke ich, der Pater ist viel zu dynamisch, sich weiterhin auf unser Tempo einlassen zu können. Ihm steht ja nur ein enges Zeitfenster zur Verfügung. Nicke Elke zu, sie versteht sofort, Pater Adalbert gleichermaßen, wir verabschieden uns sehr freundschaftlich. Nach zehn Schritten kehrt der Benediktinermönch um, fragt, ob er uns segnen könne, allerdings gewohnterweise in Tschechisch. Natürlich. Es ist bewegend. Auf der Straße, kurz vor Torres del Rio. Eine kurze Stille tritt ein, Pater Adalbert sammelt sich, murmelt leise ein Gebet, hebt seine rechte Hand, macht das Kreuzzeichen, spendet uns den trinitarischen Segen: Ich segne euch im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Verneigt sich, wünscht uns alles Gute, eilt davon.

Später in Leon wird uns ein amerikanischer Diakon segnen, auf dem großen Platz vor der Kathedrale. Das sind Erlebnisse, die Elke und ich nicht vergessen werden. In Viana entscheiden wir uns, noch in Gedanken an Pater Adalbert, es ist erst kurz nach elf Uhr, nach Logroño weiter zu gehen. Das hindert uns nicht, schnell noch in der Iglesia die Pilgerpässe abstempeln zu lassen, von einem griesgrämigen, völlig lustlosen Sakristan. Noch mehr interessiert mich der Stein vor der Kirche. Cesare Borgia steht drauf. Generalisimo de los Ejercitos de Navarra Pontificios Muerto en Campos de Viana. El XI de Marzo MDVII. Generalissimus der päpstlichen Heere Navarras, getötet auf dem (Schlacht-)Feld von Viana am 11. März 1507. Zu Cesare, dem unehelichen Sohn von Rodrigo Borgia, dem späteren Papst Alexander VI., an anderer Stelle mehr.

Söhnke. Ein toller Typ von San Javier

Nur achtzehn Kilometer liegen hinter uns (am Vortag waren es um die 37 km), sind früh dran, es ist erst halb eins, fünf Stunden auf gut zu gehenden Wegen. Und dennoch: die letzten Kilometer zogen sich, sind erschöpft. Von weitem glänzt eindrucksvoll die Silhouette Astorgas mit ihren römischen Mauern: Asturica Augusta. Die letzten Stufen der schmalen Gasse, scheinbar ein Hindernis, auch sie werden letztlich überwunden.

Einer Eingebung folgend biegen wir nach links ab, an einem Hotel vorbei, sehen das Schild Albergue de Peregrinos San Javier. Genau zum richtigen Zeitpunkt. An der Wand, hinter dem runden Tisch, hängt ein T-shirt, daneben eine Postkarte; später mehr. Immer noch rührt sich keiner, treten endlich in den Innenhof, sehen Söhnke, so stellt er sich deutschsprechend vor. Sieht man uns das Deutschsein so deutlich an?

Söhnke ist ein Glücksfall für uns. Er weist uns einen Schlafraum zu mit 12 Betten, den wir, ja, es war so, völlig für uns alleine hatten, trotz sehr guter Belegung; also keine schnarchenden Mitpilger, kein frühes Gewecktwerden, kein Geschnatter, et ecetera.

Söhnke ist Aussteiger, kommt aus einer norddeutschen Kleinstadt, will sich in Spanien eine neue Existenz aufbauen, schon recht bald mit neuer Freundin eine eigene Herberge managen. Seine ins Detail gehende Geschichte mit allen denkbaren Höhen und Tiefen des Lebens fasziniert. Den Jakobsweg kennt Söhnke wie kein anderer. Schon dreimal hatte er den kompletten Camino de Frances erwandert, hin und zurück. Ich rechne erst gar nicht nach. Bin froh, wenn wir die ausstehenden rund zweihundertsiebzig Kilometer schaffen, ohne Blessuren.

Vielleicht sehen wir ihn ja wieder. Auf jeden Fall werden wir allein schon deshalb an ihn ob seines Arrangements denken, uns den Schlafraum reserviert gehalten zu halten. Was war der Grund? Mitleid mit uns Pilger fortgeschrittenes Alters? Unsere Empathie? Unser ehrliches Interesse an seiner wechselvollen Vita? Warum auch immer, auch sein Chef führte alle ankommenden Pilger, und es waren nicht wenige, an der Tür unseres Schlafraumes vorbei. Söhnke kennt sich aus, in Astorga sowieso, erahnt, was uns wohl schmecken könnte: seine Restaurantempfehlung passt genau.

Zurück vom Abstecher in der City mit der Kathedrale (Heilige Messe + Rosario (Rosenkranz)) und Bischofspalast lassen wir den Abend im offen gehaltenen Aufenthaltsraum ausklingen. Nach und nach gesellen sich weitere Pilger hinzu. Sie erzählen von sich, von ihrem Camino; an Söhnkes Geschichten kommen sie allerdings nicht heran. Lernen morgens beim Frühstück Heidrun aus Bremen kennen. Schade, Söhnke ist nicht mehr dabei, er hat frei bis zur Mittagszeit. Wir hätten uns gerne noch einmal von ihm verabschiedet; wie gesagt, vielleicht später in seiner eigenen Herberge. Ach ja, es fehlt noch die Aufklärung betreffend die Postkarte. Sie stammt, ja wirklich, von Joseph Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Der Kardinal hatte um die Jahrtausendwende einige Zeit auf dem Camino Frances verbracht – so Söhnke.

Richter Gnadenlos

Denk` ich an unser föderales Rechtssystem, denke ich an Siegmar, denke ich an unseren Jakobsweg in 2006. Warum? Siegmar ist Amtsrichter, spricht Recht, schickt Verurteilte in die JVA – Justizvollzugsanstalt, bekannt auch als Gefängnis. Später mehr. Fakt ist, das föderative System der Bundesrepublik, sechszehn Bundesländer plus Zentrale in Berlin, ist auf jeden Fall nicht als homogen zu betrachten; und das ist auch gut so. Der Reihe nach.

Wir lernen Siegmar in Molinaseca näher kennen, dem Etappenort vor Villafranca del Bierzo. Ponferrada, die Stadt mit der berühmten Templerburg, dazwischen. Siegmar hat Pech, die Schlafsäle sind übervoll belegt. Früh am Morgen müssen wir dann über in den Fluren schlafenden Pilger steigen, vorsichtig darauf achtend, sie nicht zu verletzten. Siegmar hat anscheinend Rabanal del Camino eine Stunde später als wir verlassen. Wir, wie des Öfteren ohne Frühstück, weg noch im Dunklen gegen 7 Uhr. Ihm liegt das frühe Aufstehen nicht. Zusammen mit Heidrun aus Bremen und ihrem spanisch-australischen Begleiter können wir die letzten Betten in der ehemaligen Ermita San Roque ergattern, gelegen am Ortsrand Molinasecas. Denke ich an Molinaseca, denke ich an Mitpilger, die oder der mir mein Shampoo aus der Dusche entwendet haben: nicht teuer, aber kostbar. Siegmar ist völlig entspannt, ihm macht das nächtliche Schlafen unter dem Vordach nichts aus, in der Nacht ist es ja noch so sehr warm.

Genug der Vorrede. Villafranca del Bierzo, 6Uhr20 aufgestanden, Frühstück im damaligen Dreisterne-Parador. Eine Stunde später weg. Wir nehmen – natürlich – nicht die empfohlene Strecke entlang der N 6 auf der Trasse des alten Jakobsweges in das Valcarcetal hinein. Wir entscheiden uns für den Camino duro mit Rucksack, ohne den Rucksackservice anzunehmen. Das erklärende Schild mit der Aufschrift Solo per peregrinos buen camimantes – nur für Pilger, die gut gehen können – übersehen wir an der Steinwand. Siegmar gibt uns Kraft, ohne ihn hätten wir viel mehr Zeit für diese „mörderische“ Strecke mit ihren vielen harten Steigungen nach O Cebreiro gebraucht. An anderer Stelle ggfs. dazu mehr. Siegmar ist Wanderprofi, erklärt kurz und prägnant, wie man den Rucksack richtig trägt, hinauf zum Berg anders als bergab, hat etwas mit der Gewichtsverlagerung zu tun; aber bergab genauso schnell, also langsam, wie bergauf.

Siegmar ist Richter in Bayern, Ort spielt hier keine Rolle, sein richtiger Name auch nicht. Er plaudert aus dem Nähkästchen. Unzureichender Internetzugang für ihn und seine Richterkollegen. In Bayern Verurteilte ließen sich in norddeutsche Bundesländer verlegen, weil dort Reststrafen geringer. Wir nennen Siegmar fortan Richter Gnadenlos. Im Bild rechts „Bunter Vogel“, liebevoll gemeint, und so verlaufen unsere Treffs, spontan, nicht geplant.

Die Berliner Vollzugsanstalten würden, anders als in Bayern, den Strafgefangenen großzügige Weihnachtsferien gewähren, teils schon im Spätherbst, was Auswirkungen auf geplante Überstellungen in Gefängnisse anderer Bundesländer nach sich ziehen würde. Er hat natürlich viel mehr erzählt, über sein Privatleben, seinen Job, seine Erlebnisse als Richter, über die Zusammenarbeit mit den seitens der Ministerien weisungsgebundenen Staatsanwälten, etc. Das klang letztlich alles so einsichtig und nachvollziehbar; wobei: ich war schon der Meinung gewesen, dass die Staatsanwaltschaften mehr oder weniger autark arbeiteten: mitnichten. Gleichwohl, wir nennen Siegmar fortan Richter Gnadenlos. Er weiß es bis heute nicht. Siegmar braucht seinen Freiraum, will sagen, er geht mit dir eine volle Etappe, 25 bis 30 Kilometer, um dann am nächsten Tag sein eigenes Ding zu machen, macht sich rar, denkt wohl an zu Hause, meditiert. Es ist innerhalb dreier Jahren sein dritter Teilabschnitt vom Camino Frances. Nun, so ganz kann er sich doch nicht „freimachen“, Bunter Vogel aus Hamburg begleitet ihn auf Schritt und Tritt. Kurz zuvor war sie noch die Via de la Plata gegangen und auf das Schlimmste sexuell belästigt worden. Irgendwann trennten sich die beiden dann doch, der eine wollte weiter nach Sarria, die andere zurück; wohlgemerkt, wir sprechen lediglich vom simplen Miteinandergehen; wir treffen Bunter Vogel in Airexe, schauen in Melide gemeinsam mit ihr im Restaurant im Kreise fussballbgeisterer Spanier ein Spiel der spanischen Liga.

Bunter Vogel bereichert unseren Camino; wir nennen sie halt so, weil sie schon sooo viel auf den Caminos und back home erlebt hat, sich bunt kleidet, aber nett. Sie bereichert unseren Camino wie Richter Gnadenlos es tat in den Gesprächen am Weg, in den Bars, auf den Anhöhen. Episode Casa / Restaurant Rente. Habe gerade zweimal Salat, Suppe und Tortilla bestellt plus zwei Bier und zwei Wasser, sehr günstig. Es wird hektisch. Siegmar und seine Begleiter stehen plötzlich auf, zahlen rasch, verabschieden sich. Was war passiert? „Haben gerade gehört, in der Herberge (Anm.: Name mir entfallen) sind nur noch wenige Plätze frei, müssen uns beeilen.“ Siegmar ist jünger, schneller, hat mehr Power und Kondition. Was ist zu tun? Hinterher? Einen Wettlauf starten? Nicht mehr Fauna und Flora beachten, Ruhepausen einlegen? Kommt ja gar nicht in die Tüte. Überlegen kurz, buchen telefonisch ein Zimmer für Morgade, eine ausgesprochen freundliche Bedienung tut es für uns. Darf man heute eigentlich noch Kellnerin sagen; damals schon. Egal.

Siegmar bleibt wie wir zwei Tage länger in Compostella, nimmt wie wir den neunzig Minuten verspäteten Flieger nach Palma de Mallorca. Wie sein Weiterflug nach München sich ausnahm, wir wissen es nicht, wir jedenfalls haben Dusel, die Maschine wartet auf uns, besteigen als Letzte den Flieger, schauen in verständnislose Passagiergesichter: „muß das denn sein!?“ – Warum? Wir waren ausgerufen worden, hatten uns das Flughafengelände angeschaut, in aller Ruhe. Wie von der Tarantel gestochen zum Desk, hechelnd zur Gangway, mit schuldigem Gesicht durch den Gang entlang vieler Passagiere. Dankbar.  

Im „Comosapiens“ von Atapuerca kann man was erleben, Zeitgeistdiskussion inklusive  

Ein weltberühmter Ort kündigt sich an. Immer noch betrübt, in San Juan de Ortega vor verschlossenen Kirchentüren gestanden zu haben, über das Wunder der Tagundnachtgleiche am jeweils am 21. März und 27. September werde ich gesondert berichten, erreichen wir schon in den Mittagsstunden den Weltkulturerbe-Ort Atapuerca, Heimat der ersten Europäer. 1994 wurden hier 800.000 Jahre alte menschliche Reste gefunden. Wie immer sind sich die Wissenschaftler nicht einig, Stichworte: Homo antecessor, Homo erectus, Homo heidelbergensis . Wir schenken uns den 4 km weiten Abstecher.

Das abendliche Pilgermenü im Restaurant COMOSAPIENS ist spitze — für lediglich je 10 Euro drei Gänge plus Wein, fast schon sternereif. Ich habe den Reiseführern berichtet. In 2024 ist auf der Homepage im perfekten Deutsch zu lesen: Ein einzigartiger Zwischenstopp, ein Sinneserlebnis, ein magischer Ort: die Sierra de Atapuerca und der Jakobsweg.

Zurück zu unserem Camino, several years ago. – “Please, tell your cook, it was wonderful,“ so ich zum Ober. Mit seiner Antwort „Oh, that`s my wife, thank you“ hatte ich überhaupt nicht gerechnet, war ein wenig unsicher geworden. Der Ober ist zugleich auch Ehemann der Köchin und Chef des Restaurants. Meine Unsicherheit nahm er uns sofort, lachte, ging in die Küche, kam zurück und bedankte sich noch einmal – nunmehr offiziell im Namen seiner Frau. Der Mann, ein aufmerksamer Geschäftsmann, hatte es auf jeden Fall drauf. Zweimal überraschte er uns noch, abends und am Folgetag.  

Zeit für einen Schlenker und zu unserem Gespräch mit dem  netten „Trierer“ vom Nachbartisch. „Endlich mal ein Wein, der richtig temperiert serviert wird,“ ruft uns der 45‐Jährige zu. Offensichtlich ein Weinkenner. Gleichzeitig bestätigt er damit unser Lob an den Ober, mit dem natürlich auch der Wein gemeint war. Er müsse die Meseta von Burgos nach Leon auslassen, sein Zeitfenster ließe es nicht zu, was ja auch nicht so schlimm sei, da ja die Meseta ohnehin langweilig sei. Ich hingegen freue mich gerade auf dieses Teilstück: auf Hitze, auf Einsamkeit. Wir werden sehen.

Die Diskussion verlässt den Camino Frances, wechselt zum Trierer Tuch, besser formuliert als Heiliger Rock *). Ja, er kenne die Wallfahrten. Was ich befürchtet habe, tritt tatsächlich ein. Der Trierer meint, in uns gleichermaßen kritisch-liberale Katholiken vermuten zu müssen. Die katholische Kirche in Deutschland müsse sich endlich dem Zeitgeist öffnen. Bin in meinem Element. Nur am Rande, habe einmal ein wenig katholische Theologie studiert. Insistiere, frage nach, welchen Zeitgeist er denn meine? Den von heute? Den von gestern vor fünf oder zehn Jahren? Den von morgen, der alles Heutige negiert? Meine These ist ja, wenn sich die Welt – oder auch die Ortskirche dem Zeitgeist, dem veröffentlichten  Mainstream anpasste, würde sie sich selbst und ihre 2000 Jahre alte Tradition aufgeben, alle paar Jahre sich neu definieren müssen.

Sie hätte die ersten drei bis vier Jahrhunderte noch nicht einmal überstanden, hätten sich rechtgläubige Bischöfe dem Kaiser und seinen Anhängern (Arianer) gebeugt. Nein, sie riskierten nicht nur die Verbannung, sie wurden einfach abgesetzt, in die „Walachei“ geschickt, bis sich nach mehreren Jahren der Wind für sie und unsere eine, heilige, katholische und apostolische Kirche wieder drehte, sie ihren Bischofsstuhl wieder einnahmen. Was aktuell en vogue ist, ist morgen total veraltet. Und überhaupt! Wer soll entscheiden, was angesagt ist? Den Kaiser gibt es nicht mehr. Der Vatikan wird für eine Entscheidung Zeit brauchen. Also die Kirchenmitglieder – in diesem Fall in Deutschland? Was ist mit den anderen Teilkirchen auf allen Kontinenten? Weltkirche ade? Wer soll also entscheiden? Die regelmäßigen Kirchgänger? Die Aktiven? Der Kirchenvorstand? Der Gemeinderat? Die Pfarrgemeindereferentinnen? Die einzelnen Diözesen? Die zufällig Anwesenden einer anberaumten Versammlung? Who ever,  it does not work!

Minuten später, wir sind längst wieder in der Herberge, zischen auf der Terrasse gemütlich mit Pilgern ein Bier für die nötige Bettschwere, taucht plötzlich unser Ober auf, erkennt uns sofort, stoppt, lächelt, zaubert hinter seinem Rücken zwei Taschen hervor. Es sind unsere beiden im Comosapiens vergessenen Umhängetaschen. Sein Dank für unser Kompliment. Wir hatten es noch gar nicht bemerkt gehabt. Überglücklich bieten wir ihm einen Finderlohn an; er will ihn nicht. Das wär`s gewesen, beide Taschen mit Geld und Kreditkarten drin. Der Camino ist gerettet.

Am nächsten Tag der letztlich krönende Abschluss unserer Atapuerca-Story. Kurz vor Burgos hupt uns jemand an, winkt uns aus dem Auto zu. Elke hat schnelle Augen. Sie hat ihn erkannt, es ist der freundliche Ober, der Eigentümer vom Comosapiens. Ist doch ein netter Zug, oder? Er muss uns ja schon von weitem von hinten erkannt haben: der Große mit der kleinen Frau, meiner liebenswürdigen Elke.

*) Die „Heilig-Rock-Tage“ werden seit 1997 als Bistumsfest der Diözese Trier gefeiert. Als Heiliger Rock wird ein Gewand bezeichnet, das Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung getragen haben soll. Ob es sich bei dem Trierer Tuch, das zu den bedeutendsten Reliquien der katholischen Christenheit gezählt wird, um das Originalgewand handelt, lässt sich nach Bistumsangaben weder mit historischen noch mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen. Der Überlieferung zufolge brachte Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, die Tunika aus dem Heiligen Land nach Trier. The Apostle Saint James the Greater Freeing the Magician.

Ein Moslem erklärt uns seinen Camino

„Wenn so viele Menschen Jahrhunderte lang diesen Weg gegangen sind, dort Kraft gespürt und geschöpft haben, dann ist dieser Camino auch etwas für mich.“ – Ein bemerkenswert kluger Satz.

Seit über 45 Jahren lebt er als türkischstämmiger Moslem in Deutschland, sehr zufrieden. Seine Wurzeln hat er nicht vergessen, legt Wert auf die Feststellung, dass er sein neues Heimatland achte und akzeptiere. Er wohnt in Aschaffenburg. Wir erleben ihn voller Tatendrang, auf jeden Steinhaufen legt er ein weiteres Steinchen hinzu, fragt sich, fragt mich, warum die anderen Pilger es nicht auch täten? Eine berechtigte Frage, die wenig später eine „eindrucksvolle“ Bestätigung erfährt. Ich meine am Cruz de Matagrande; ein steiler Weg auf Schotter führt zu ihm, zum Punto de Vista, 1082 m hoch.

Auf dem Plateau steht das riesige Kreuz. Die meisten Pilger streben achtlos vorbei, offenbar keines Gedanken würdig. Was machen die eigentlich hier, fragt sich der moslemische Mitpilger, verständnislos, ich gleichermaßen. Für ihn spiele die türkische Geschichte eine große Rolle, ihre aufs und abs, die türkische Kultur, die Religion. Er hatte sich schon früher, in Aschaffenburg, so seine Gedanken gemacht, viele Deutsche kennengelernt, die andere Prioritäten setzten, geschichtslos seien. Nun geht er den Camino de Santiago, weiß um den heiligen Apostel Jakobus, und nun dieses. Eigentlich sei er davon ausgegangen, dass die deutschen Mitpilger ihm viel mehr über Sant`iago erzählen können müssten. Ein Trugschluss.

Es sind, zumindest an jenem Tag im Mai, offenbar zumeist sportive Pilgerwanderer unterwegs, die möglichst schnell Burgos erreichen wollen. Am Abend zuvor waren wir Zeuge mehrerer geführter Telefonate, in welchen die betreffenden Pilgerinnen sich nach einer Busverbindung von Atapuerca aus nach Burgos erkundigten. – Leider verschwindet „unser Moslem“ aus unserem Blickfeld, wir werden ihn nicht mehr sehen. Vielleicht beim nächsten Mal, er will den Camino noch einmal gehen, so begeistert ist er.

Florian nimmt es gelassen: Misloaded Backpack – Airport Bilbao

Schon `mal  vorweg, wir nicht. Der Reihe nach. 18Uhr. Geduldig stehen Elke und ich am Laufband. Erst morgen wird es nämlich richtig losgehen, in den Pyrenäen, in St.‐Jean‐Pied‐de‐Port, gute achthundert Pilgerkilometer bis Santiago. Freuen uns riesig. Le Refuge Orisson ist in aller Munde, haben natürlich vorgebucht, so die Empfehlung.  Irgendwann werden die Rucksäcke kommen“, reden wir uns ein, „die kommen bestimmt noch – sie müssen kommen.“ Mit diesen Gedanken sind wir nicht allein. Es hat gleichermaßen den Florian aus Potsdam und das Arztehepaar B. aus Oldenburg getroffen: stehen alle ohne Gepäck da. Kommen ins Gespräch, das entsprechende Areal mittlerweile menschenleer. Keiner spricht uns an. Gut, werden wir also tätig.

Wahrlich, was folgt, ist kein Ruhmesblatt für den Carrier Air Berlin, für die Reisebüros nicht, und für die Damen von Lost and Found im Flughafen auch nicht. Keiner fühlt sich zuständig. Unzählige Mobilfunkgespräche aller Beteiligten belegen es. Es hilft nichts. Die Schmuckstücke kommen heute nicht mehr. Der Hammer: „Frau Chefarzt“ beichtet ihrem Mann, sie habe wichtige Papiere und Kreditkarten in ihren Rucksack deponiert. Großes Schweigen. Schlimmer geht`s nimmer.  Etwas ratlos besteigen wir den Shuttlebus Richtung City /Busbahnhof. Das Hotel liegt nur wenige Minuten von ihm entfernt. Die Oldenburger, die eigentlich weiter nach Logroño wollen, um von dort aus wieder in den Camino Frances einzusteigen, begleiten uns, checken ein; sie bezahlen 10 Euro weniger. Warum? Weiß ich bis heute nicht. Florian geht zur Herberge. 

Wer nun denkt, wir selbst könnten das Problem lösen, mit dem Flughafenpersonal, mit Air Berlin, mit LTUR,  etc., sieht sich getäuscht. Es klappt rein gar nichts. Als hätten sich alle gegen uns verschworen. Erst als der Rezeptionist des Hotels am nächsten Tag netterweise – mit viel Zuspruch allerdings – die Regie übernimmt, klappt es. Die Rucksäcke werden, so seine Info, heute mit der gleichen Nachmittagsmaschine kommen, unbeschädigt, sein Credo. Wir werden sehen.

Besteigen den Bus zum Airport. Nur wir Männer dürfen durch die Sicherheitsschleuse, die Frauen warten draußen. Zeit genug, mit Herrn Chefarzt B. zu plaudern. Ihr glaubt es kaum, Dr. B. wollte mir doch tatsächlich einreden, wie schwer es für ihn und seiner Frau sei, nunmehr als selbständige „Arzt-Praxis“ existieren zu können. Es fallen Stichworte wie Existenzminimum, Gesundheitsreform, Seehofer-Reform. Ich lach` mich innerlich tot, er verdient wahrscheinlich sechsstellig, und dann dieses Gejammer. Meine Reaktion ist diplomatisch eingefärbt, bin halt Geschäftsmann durch und durch. Nur am Rande: das berühmte Guggenheim Museum Bilbao war geschlossen. Jahre später hatten wir uns besser vorbereitet, verbrachten stundenlang in diesem tollen Museum.

Florian aus Berlin bleibt uns noch erhalten. Auf der 3-stündigen Busfahrt Bilbao > Bayonne, auf der Zugfahrt nach St. Jean. Florian erzählt von seinem Leben. Hat das Buch vom Spaßmacher der Nation gelesen: was der kann, kann ich auch. Es ist seine erste längere Wanderstrecke. Ich merke, das christliche Pilgern ist nicht so sein Ding, ist halt in Berlin sozialisiert. Er will sich körperlich beweisen. Wenn das man gutgeht. Gute Kondition und gute Psyche bedingen einander. Nach der Tour will Florian mit dem Studium beginnen.

In St. Jean verabschieden wir uns vor dem Bahnhof, schießen voneinander Fotos. Klar, er ist Anfang Zwanzig, wir fünfunddreißig Jahre und mehr älter, er dürfte uns – trotz meines Animus – wohl davon eilen. Pustekuchen. Und hatte ich ihm nicht den Ratschlag gegeben, es nicht zu forsch anzugehen?

Drei Tage später. Es sollte wirklich so sein. Wen sehen wir in Pamplona? Florian in Begleitung zweier Mitpilger. Überhaupt, wer uns nicht alles über den Weg läuft. Der französische Pater von Zubiri. Die Würzburger-Brüder aus Huntto resp. Roncesvalles, etc. – Florian humpelt, ist von Zubiri mit dem Bus gefahren, seine Blasen schmerzen fürchterlich, will noch zwei weitere Tage in Pamplona anhängen, sich erholen. Wie soll das bloß weitergehen? Schon nach den ersten Tagen Komplettausfall. Nun, es gibt ja gute Busverbindungen. Wir haben Florian, diesen sympathischen jungen Mann, nie wieder gesehen. Schade. Für uns ging es am nächsten Tag bei strömenden Regen weiter Richtung Puente la Reina, im Matsch hoch zum Puerto del Perdon; irgendwie alles grenzwertig.

Exkurs. Parasitismus oder doch nur Ressourcengewinn?

Ich hätte es mir denken, allein der Titel des Buches sollte mich gewarnt haben. Ich werde ihn nicht benennen. Es geht schlichtweg um die Verarbeitung der Lebenskrise eines realen Journalisten, der sich dafür die Geschichte eines vermögenden Menschen ausdenkt, der ihn wiederum teils mit weisen Allerweltsratschlägen beglückt. Und was liegt da näher, dafür den Jakobsweg zu instrumentalisieren. Und wer sich für diesen Trip nicht erwärmen lässt, für den hatte er gleich einmal ein Buch vorweggeschickt, in welchem ein alter und weiser Mensch weiterhilft. Unabhängig davon, dass der aufgemachte Plot wenig nachvollziehbar klingt, bereits nach zwei kurzen Gesprächen outet sich der Philanthrop, vertraut sich einem ihm an sich völlig fremden jungen Mann an, erzählt von sich, seiner Familie, seinen unermesslichen Erfolgen, gibt ihm Tipps.

Der Autor besticht durch Halbwissen, erklärt seinen Lesern einen Katholizismus auf eine hanebüchene Art und Weise. Nur eine Kostprobe: Man mache einen vierwöchigen Spaziergang und schon sei man die Sünden los und komme ins Himmelreich. Das erinnert mich an die gern tradierte Fehlinterpretation der Beichte, dem Bußsakrament: Beichten, beichten, beichten, weitermachen, weitermachen, weitermachen bis zu nächsten Beichte. Das ist natürlich grober Nonsens, wie obige Kostprobe. Unser Journalist hat wohl noch nie etwas von der Begrifflichkeit Ablass gehört, der natürlich schon immer an Voraussetzungen geknüpft ist und nur dann eine gewisse Wirkung entfaltet. Am Ende des Buches sein Highlight Spinoza, Philosoph und Kritiker der katholischen Kirche, Zweifler zentraler Glaubenslehren seiner jüdischen Gemeinde.

Für den Philantropen soll es der fünfte Jakobsweg sein; alle vier hätten ihm temporäre Probleme gelöst. Und dafür bedient er sich eines über elfhundertjahrealten christ-katholischen Pilgerweges, seiner christ-katholischen Ressourcen, um schlussendlich zu konstatieren, dass ihm die pantheistische Philosophie eines Spinoza besser gefalle denn der Katholizismus. Baruch de Spinoza, sephardischer Herkunft, lebte von 1632 bis 1677, gilt als Begründer der modernen Bibel- und Religionskritik. Sein Pantheismus bedeutet letztlich: Alles ist Gott, Gott und die Welt sind eins, alles, Kosmos inklusive, ist göttlich. Im Gegensatz dazu der christ-katholische Panentheismus, wonach es einen personalen Gott gibt, in dem die Welt enthalten ist. Gott ist also außerhalb der Welt, außerhalb des Kosmos zu denken.

Für den Reichen ist es bereits der fünfte Jakobsweg; alle vier hätten ihm temporäre Probleme gelöst. Und dafür bedient er sich eines über elfhundert jahrealten christ-katholischen Pilgerweges, seiner christ-katholischen Ressourcen, um schlussendlich zu konstatieren, dass ihm die pantheistische Philosophie eines Spinoza besser gefalle als der Katholizismus. Baruch de Spinoza, sephardischer Herkunft, lebte von 1632 bis 1677, gilt als Begründer der modernen Bibel- und Religionskritik. Sein Pantheismus bedeutet letztlich: Alles ist Gott, Gott und die Welt sind eins, alles, Kosmos inklusive, ist göttlich. Im Gegensatz dazu der christ-katholische Panentheismus, wonach es einen personalen Gott gibt, in dem die Welt enthalten ist. Gott ist also außerhalb der Welt, außerhalb des Kosmos zu denken.

Nun, seinen Rekurs auf Spinoza kann er bringen und propagieren, wie er will. Nochmal meine Frage. Warum bedient er sich dazu des Camino de Santiago? Kann ein denkender und an sich auf Recherche getrimmter Journalist den Jakobsweg als Neutrum ansehen, zwar schon verbunden mit spiritueller Atmosphäre, aber sich mehr oder weniger nicht grundsätzlich um den Namensgeber, den Apostel und Märtyrer Jakobus zu interessieren? Jahrhundertelange gingen gläubige Christen den Weg bis hinwein die Moderne, bis ein Martin Luther diesen Camino verteufelt und darauf hinwies, in der Kathedrale könnten auch Hundeknochen liegen.

Für den üblichen Wanderpilger mag das Ausblenden der Wirklichkeit zutreffen. Aber für einen Philosophen und Literaturwissenschaftler? Wahrscheinlich war es der schnöde Mammon, oder gar übersteigerte Selbstdarstellung? Und dann dieses Halbwissen eines Intellektuellen. Grauslich. Gute bis sehr gute Schriftsteller zeichnen sich dadurch aus, dass sie entsprechend recherchierten. Zur Erinnerung. Der Märtyrer und Apostel Jakobus gilt als einer der engsten Vertrauten Jesu Christi, dem Stifter der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, dem inkarnierten Gottessohn, dem trinitarischen Sohn Gottes, der mit seinem Kreuzestod ein für alle Mal die Sünden der Welt auf sich genommen hat.

Fazit. Meine Frage an den geneigten Leser? Übertreibe ich, wenn ich die Vokabeln bringe: schlichtweg parasitär, anmaßend, oder doch nur akzeptabler Ressourcengewinn? Ist heute alles erlaubt? Der Leser möge entscheiden. Irgendwann werde ich auf unsere Erlebnisse mit Touripilgern zurückkommen, die eines gemeinsam haben, ob nun auf den Caminos in Spanien, Portugal: Abneigung, teils Wut auf die katholische Kirche (O-Ton: „Selbstverständlich bin ich aus der Kirche ausgetreten – bist du etwa noch drin?“). Ich halte es mit dem altehrwürdigen Begriff der Ehrlichkeit und der daraus folgenden Konsequenz, gegebenfalls Verzicht zu üben, um seinem Anspruch von Authentizität, Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Offenheit und Geradlinigkeit nahe zu kommen.

Meseta. Vernebelt Hitze den Verstand?

Meseta. Klimawandel. Kofferservice. Räto. Franco

Hornillos del Camino. Glück gehabt. Die letzten beiden Betten ergattert.

Die Meseta hat mich eingefangen. Hitze, Einsamkeit, keine lauten Gespräche wandernder Menschen. Exakt so habe ich mir das vorgestellt: anstrengend, heiß, still, den Gedanken nachhängen, keine Seele weit und breit.

Das ändert sich im Nu kurz vor Hornillos del Camino. Es gibt nur zwei Hostals und eine Herberge. Der Run beginnt. Das erste Hostal ist ausgebucht, mit dem zweiten kann ich mich nicht recht verständlich machen. Haben Glück, rechtzeitig ergattern wir gerade noch zwei  Plätze. Es wird immer heißer. Schattenspendende Plätze sind rar geworden. Mit uns im Raum liegen Menschen aus Australien, England, Dänemark, Korea, Spanien. Eine Toilette, zwei Duschen für 10 Personen.

Beim nachmittäglichen Dinner (Pilgermenü) sitzen zwei deutsche Ehepaare neben uns. Sie hatten wir im Burgos‐Hotel Kartenspielen gesehen. Ihr Kofferservice scheint prächtig zu klappen. Elke dazu: „Jakotrans macht`s möglich.“ Pro Koffer und Etappe 5 Euro. Gönnerhaft verlassen sie das Lokal mit der spitzen Bemerkung: „(…) die armen Pilger sollen ja auch noch was zu essen kriegen.

Es ist unerträglich heiß. Das einzig Positive daran ist, die Wäsche trocknet ausgesprochen schnell. Alle hängen herum, die schattenspendenden Plätze sind belegt. Neben uns sitzt ein Engländer, so vor sich hin dösend, eine Dose Bier auf dem Tisch. Die gegenüberliegende Bar wird bald keine Getränke mehr ausschenken können, oder vielleicht doch? Die Müllsäcke quellen über mit leeren Dosen. Ob der Brunnen trinkbares Wasser führt? Nur wenige machen sich an ihm zu schaffen.  Den Engländer, ein feiner Typ, sprechen wir in Carrion de los Condes, sehen ihn innig betend in der Kapelle von Leon.

Sidestep. Mensch, was hatten wir für ein Glück! Keine Diskussionen zum Klimawandel, den menschengemachten gab es ja damals noch nicht, einfach nur Hitze pur, 35° bis 40°: auf der Meseta, später dann auf dem Weg zum Cruz de Ferro. Eigentlich schade, nicht wahr!

Räto vom Nebentisch spricht mich an, ein Schweizer. Eine interessante Person, wie sich herausstellen wird: abwechslungsreichem Camino nicht abgeneigt. Wir werden sehen. Räto ist 45 Jahre alt,  Schweizer Geschäftsmann, Branche Internet, offensichtlich erfolgreich. Mit 23 zum ersten Mal Vater geworden, drei erwachsene Kinder. Jetzt will er auch mal nur für sich sein. Nicht nur schuften, auf Geschäftsreisen sein. Was bietet sich Besseres an, als den Jakobsweg zu gehen? Seine Frau riet ihm zu. In gut dreißig Tagen will er am Ziel sein. Nach Möglichkeit für sich alleine gehen, mit wenigen Leuten sprechen, zu sich selbst finden.

Tja, und was macht er? Nix da mit Selbstfindung, nix da mit alleine gehen. Räto spricht nicht nur mich an, so oft wir ihn sehen, ist er in Begleitung, in der Gruppe oder mit ….. Hornillos del Camino, nachmittags auf dem Platz vor der Herberge und Kirche war es. Elke und ich schlappern eine Cola, blättern in Reiseführern, für mehr sind die Synapsen nicht zu haben. Räto, er siezt mich: Darf ich mir mal Ihren Wanderführer ausleihen, ich muss mein Tagebuch nachholen. Bei so vielen Etappen weiß man schon gar nicht mehr, was wann wo war.“„Klar.“ Kurz darauf erzählt er uns seine ganze Caminogeschichte, und als ich ihn nach seinem Beruf frage, komme ich überhaupt nicht mehr zum Zuge. So ist das. Was ist Wahrheit, was ist Fiktion? Wer weiß das schon? Caminogeschichten halt. Warum schreibe ich das so ausführlich? Weil es in ähnlicher Form immer wieder erzählt wird; in diesem Fall ist es halt allem Anschein nach ein erfolgreicher Geschäftsmann. Räto vertraue ich, gebe ihm einen der Reiseführer, macht sich Notizen, gibt ihn zurück.

Die Kirche ist wider Erwarten offen, kühl dazu, für Elke zu kalt, holt sich extra eine Jacke. Ich bin da schmerzlos. In der Nähe des Altars hängt ein Bild, das mich interessiert, zeigt einen Priester, der 1936 im spanischen Bürgerkrieg von den Anhängern der Volksfrontregierung ermordet worden ist. Die veröffentlichte Meinung in Deutschland stellt sich meines Erachtens nach wie vor zu einseitig auf die Seite der Republikaner, der roten Brigaden, der Volksfrontregierung also. Wenn von Franco die Rede ist, wird von der bösen Junta gesprochen. Dabei bedeutet das Wort Junta nichts anderes als (Regional‐) Regierung, überall am Wegesrand zu lesen. Nicht nur die Frankisten haben Menschenleben auf dem Gewissen, die roten Brigaden, die Sozialisten stehen ihnen nicht nach. Tausende von Priestern und Nonnen sind ermordet worden, Kirchen geschändet, abgerissen. Das aber will heute keiner wissen.

Fünf Etappen später. Erneute Begegnung mit Räto, diesmal in Bercianos de Real Camino. Das Hostal ist Treffpunkt aller Bekannten vom Camino: Räto, vor wenigen Stunden angekommen, diniert mit einer Holländerin, die Koreaner tun gleiche, bleiben aber unter sich. Elke und ich warten bis acht, durchschreiten den kleinen Ort, sitzen draußen vor dem Hostal, essen gut, trinken einen Rioja, sinnieren, wen wir wohl wiedersehen werden. Räto nicht.

Peter vom Saarland. Ein wahrer Pilger

Ein Bischof aus Benin predigt in Deutsch

Caminho Portuges. Samstag, 14. Mai. Kathedrale Santiago. Wir treffen auf Peter aus dem Saarland, einem wahren Pilger. Der Countdown beginnt um 6:15 Uhr. Gerade als wir um 6:40 Uhr Pepes Bar in Padron verlassen, gibt’s ein lautes Hallo mit Harold und Irene aus Calgary (oben beschrieben). Es wird – leider – das letzte sein. Wir werden sie nicht mehr treffen. Schade. Es ist noch dunkel. Die Markierungen sind teils schwierig zu erkennen, einmal müssen wir einen unbeschrankten Bahnübergang queren.

Exakt halb eins: Elke und ich stehen vor dem Portal. Fast unwillkürlich kullern die Tränen, wir sind nicht einzigen, denen dieses widerfährt, stumm nimmt Elke mich in den Arm, alles fällt von ihr ab, sie denkt nicht mehr an die Strapazen, an die Unbilden mit mir und meinen Pausen. Ich bin überzeugt, sie ist glücklich – ich auch. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude, der Dankbarkeit, des Gefühls, etwas nicht Alltägliches geleistet zu haben.

Elke will unbedingt sofort in die Kathedrale, zum Grab und zur Büste des Apostels. Ihn umarmen. Wir sprechen mit den Holländern, sie kamen gestern an, ebenso freuen wir uns über die aufmunternden Blicke der beiden Pilger aus Andorra. Ich setze mich durch und so gehen wir zum Pilgerbüro. Ich möchte unbedingt die Compostela haben, die Bescheinigung des gegangenen Weges. Oh, eine lange Schlange ist abzuwarten. Viele stehen auf der Treppe. Was tun? Vertreibe mir die Zeit, spreche Peter aus dem Saarland an, so stellt er sich vor. Er wird uns sogleich motivieren, unsere Reservation zu canceln und stattdessen „seine“ Hospederia San Martin zu wählen. Es soll dort ein phantastisches Frühstück geben – es ist ein ehemaliges Priesterseminar. Er hat Recht. Und überhaupt, seine Geschichten vom Weg, vom Camino Frances, über 800 km, sind phantastisch glaubwürdig, voller wundersamer Begegnungen, komme später darauf zurück.

Ein Bischof aus Benin leitet den sonntäglichen Haupt-Gottesdienst. Es ist gerammelt voll, schon um viertel vor elf für die 12 Uhr Messe, während die 10 Uhr-Messe zelebriert wird. Völlig undamenhaft drängeln sich spanische Frauen in die Bänke, junge PilgerInnen nehmen hingegen auf dem kalten Boden Platz oder setzen sich auf ihre Rucksäcke. Klar, dass viel fotografiert wird. Was wäre das schön, wenn jeder der hier Anwesenden auch daheim in den sonntäglichen Gottesdienst ginge, wie weiland in den 50ziger Jahren.                                                                                                                  

Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden

Nach der spanisch gehaltenen Predigt, wie immer werden dabei die vielen Ländernamen benannt, deren Pilger sich haben registrieren lassen, ergreift der afrikanische Bischof aus Benin das Wort. Völlig überraschend wendet er sich diesmal in deutscher Sprache an uns. In kurzen, aber eindrücklichen Sätzen geht er auf Jesu-Worte des aktuellen Evangeliums vom 4. Sonntag der Osterzeit ein – Joh 10,1-10: Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden. Ergreifend. Das habe es noch nie gegeben, so Herr Koch von der Pilgerbetreuung der Diözese Rottenburg-Stuttgart. – Das Schwenken des Botafumeiros bildet den würdigen Abschluss. Wir erleben es zum zweiten Mal: imposant.                          

Zurück zu Peter aus dem Saarland. Wir sehen uns nachmittags auf der Plaza Obradoiro, verabreden uns zum abendlichen Pilgermenü, in der Hospederia S. Martin. Plaudern, frage ihn, ob ich ein Foto von ihm machen könne. Peter ist völlig überrascht, bejaht meine Frage, sagt, dass ihn noch keiner gefragt habe, sie hätten ihn einfach fotografiert, ohne zu fragen, attestiert mir Höflichkeit.

Peter schlägt getrennte Tische vor, denn: an jedem Tisch gäbe es nur eine im Menü enthaltene Flasche Rotwein, egal wie viele Personen Platz nähmen. Wir nehmen zwei aneinander liegende Tische, ausreichend für ein gutes, interessantes Gespräch, mit vielen wundersamen Narrativen. Peter, ein tiefgläubiger Katholik, Verwaltungsvorstand, ist den Camino Frances alleine gegangen, geschlagene sechs (6) Wochen. Sein jüngerer Sohn, 18 Jahre alt, hat ihn zeitweise begleitet.

Sofort kommen Erinnerungen von unserem Camino Frances hoch (wir sind ja heuer den Caminho Portugues gegangen), als wir die beiden Würzburger-Brüder in Huntto in den Pyrenäen trafen. Der ältere, er war in Würzburg gestartet, hatte sich von seinem jüngeren Bruder begleiten lassen, auf einem Teilstück von wenigen Hundert Kilometern, zuvor „passten“ seine Enkelkinder auf ihn auf.

Peter kann gut erzählen, wir offenbar gut zuhören; nun denn, ich frage auch gerne (wie weiland im Berufsleben, nur so kommt man zu Ergebnissen). Er erzählt von seinen spirituellen Erlebnissen, von der stark verregneten Meseta; es muss wirklich sehr schlimm gewesen sein. Wir hingegen hatten in 2006 unter teils brutaler Hitze gelitten, wie eigentlich üblich im Frühsommer. Peter ist in seinem Element: berichtet, wie häufig auf der Suche nach einem Bett gewesen sei, hatte wohl enormes Gottvertrauen. Klar, wenn man erst spätabends im Zielort ankommt, die Herbergen completo sind.

Was tun? Einfach irgendwo klingeln? Hat er gemacht! Und, toll aufgenommen zumal, ordentlich bedient worden mit Abendessen und einem Glas Rotwein, ‚gepennt‘ auf dem Sofa, morgens ein tolles Desayuno. Zwischendurch mein verstohlener Blick zu Elke: ob das wohl alles wahr sein kann!? Und, wie gesagt, das war ja nur eine Story. Aber, auch die anderen klangen alle irgendwie glaubwürdig wundersam. Vielleicht lag es auch an seinem Aussehen, obwohl er sich einen starken Bart hat wachsen lassen, er kam seriös herüber, hat wohl die Spanier nicht abgeschreckt mit verdreckter Kleidung, Eindruck geschunden mit seinem elegant aussehenden Hut. Die Zeit verging wie im Fluge, längst saßen wir an einem Tisch, orderten die zweite Flasche Rioja, kamen auch (noch) zu Wort. Seine spirituellen Erlebnisse lassen wir `mal außen vor, sie gehören ihm, seiner Frau und seiner Familie. Ein wirklich interessanter Jakobspilger, ein wahrer Pilger.   

Zwischengeschobenes

Zur Rennstrecke verkommen. Auch ich hatte – zunächst – den sportiven Ansatz, warum auf dem Jakobsweg pilgern, durchaus nicht außer Acht gelassen. Er verlor aber nach und nach an Bedeutung. Mehr hierüber: WIR ÜBER UNS.

Dem ersten Camino Frances von 2006 waren ja in den Folgejahren mehrere Pilgertouren in Spanien wie in Portugal gefolgt. Waren von ihm infiziert.

Mein Leserbrief bezog sich weiland auf zwei Fahrradpilger, die stolz von ihrer sportlichen Leistung berichtet hatten. Kein Wort zum religiösen Charakter des Weg, nicht einmal zum spirituellen; war halt eine Radtour.

Familie mit Rikscha leistet Ungewöhnliches

Eine 5köpfige Familie auf dem Camino Frances. Papa, Mama, drei Kinder: 2, 4 und 5 Jahre alt. Wie kann das klappen? Unmöglich auf dem Camino, bei Sonne, Wind, Regen und unwirtlichem Gelände? Das Vorhaben musste doch eigentlich zum Scheitern verurteilt sein. So sah es auch zuerst so aus, bis nach langen Gesprächen des Abwägens, des Für und Wider, das Ehepaar wollte sich unbedingt den Traum ihres Lebens erfüllen, einmal mit den Kindern auf dem spanischen Jakobsweg pilgern, jemand die rettende Idee hatte. Nicht die Eltern. Nein, man glaubt es kaum, es war der 5-jährige Sohn.

„Mama, Papa ich weiß, wie wir das machen!“ Die Eltern kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Aber Florian (ich nenne ihn einfach mal so), wie denn? Du kannst doch unmöglich die ganze Zeit zu Fuss gehen, und Annamarie (nicht ihr richtiger Name) doch erst recht nicht! " - "Doch, doch, Papa, ich fahre mit dem Rad. Und die Annamarie kann doch auch schon radfahren." - Ja, so könnte in etwa die Diskussion abgelaufen sein. Ein Wahnsinn, der Fünfjährige rettet der Familie den Jakobsweg. So in etwa hat uns der Papa die Geschichte erzählt, auf der letzten Etappe von Rua nach Santiago. Sie kommen aus dem Saarland, eigentlich aus NRW. In Melide (linkes Foto) hatte ich sie noch nicht bitten mögen, von ihnen ein Foto machen zu dürfen.

Gesagt, getan. Eine Art Rikscha musste her, ein speziell angefertigtes Vehikel: darin der Zweijährige, darin verstaut um ihn herum einiges Gepäck, was nicht mehr in den Rucksack passt. Das muss man einfach gesehen haben. Eine Meisterleistung, sowohl was die Planung, die Logistik und die Durchführung angeht. Viele Gebirgswege waren tabu, wie auch die Radfahrer mussten sie des öfteren auf stark befahrene Landstraßen ausweichen. Eine bewundernswerte Familie, die Kinder pflegeleicht, die Eltern wechselten sich nach wenigen Stunden ab, mal schob oder zog sie die Rikscha und er trug den Rucksack, dann wieder andersrum. – Phänomenal: psychisch, physisch. A la bonheur.
 

Monte do Gozo – 2006 vs 2024

Der Monte do Gozo, Berg der Freude, wo viele Tränen des Glückes flossen (mehr unten) hat sich verändert, weg vom religiösen Charakter mit dem Denkmal des hl. Papstes Johannes Paul II. in Erinnerung seiner Besuche in 1982 und 1989, fort vom Peregrino autentico – hin zum profanen Gelände für Touripilger; alles abgestimmt auf die ankommenden Massen, die versorgt sein müssen mit Steintischen und Bänken, Toiletten, Waschgelegenheiten, Übernachtungsmöglichkeiten, etc.

Einige Impressionen aus Mai 2006 vs Dezember 2024. Jeder kann verstehen, nachempfinden, was und warum sich die Autoritäten der Stadt diesen Frevel haben einfallen lassen. Manche kritisierten das sog. Hauptargument, wonach das Monument brüchig geworden seit, als vorgeschoben. Vor was vorgeschoben? Ich komme darauf zurück. – Die Fotos werde ich später textlich ergänzen.

Aus unserem Reisebericht 2006. „Der Monte do Gozo hat uns eingefangen, der Berg der Freude, galizisch Montxoi. 12 Uhr. Domenico Laffis emotionaler Schilderung aus dem Jahrhundert ist nichts hinzuzufügen“:

Domenico Laffi (1670/73):Als wir die Höhe eines Bergzuges mit Namen ‚Berg der Freude‘ erreichten und das so
herbeigeflehte Santiago offen vor uns liegen sahen, fielen wir auf die Knie, und die Freudentränen schossen uns aus
den Augen. Wir begannen das ‚Te Deum‘ zu singen, aber kaum brachten wir zwei oder drei Verse hervor, denn all zu
sehr unterbrachen Tränen und Seufzer unseren Gesang und ließen das Herz erzittern.

Aus unserem Reisebericht 2006. „Übrigens, früher gingen die Pilger die letzten Kilometer aus Demut vor ihrem Herrgott, so steht es geschrieben, vom Monte do Gozo bis nach Compostela barhäuptig und barfuß; für die Pferde wird es eine Wohltat gewesen sein. Ein hartes Unterfangen. Komisch, habe diesen Passus wohl überlesen, sonst hätte Elke mich womöglich angestiftet, diesem Brauch zu folgen; nicht auszudenken…..!

Fotos Mai 2006

Fotos Dezember 2024