Poem: Jesus kehrt zu den Menschen zurück. Hannah Arendt: Selbst das Gute (Jesu Verhalten) sei Gewalt.

Sevilla am Jakobsweg Via de la Plata. 16. Jahrhundert, zur Zeit der spanischen Inquisition. 

Poem von Fjodor Michailowitsch Dostojewskij. 1820 bis 1881. Russischer Publizist, Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker. Bekannte Werke: Schuld und Sühne. Der Spieler. Der Idiot. Die Dämonen. Der Jüngling. Die Brüder Karamasoff. Mathias Hilberts Das Buch GOTTSUCHER aus 2020 – Dichter-Bekehrungen im 19. und 20. Jahrhundert  mit C. K Chesterton, Graham Greene, Sören Kierkegaard, C. S. Lewis, Alexander Solschenizyn, Leo N. Tolstoi, Carl Zuckmayer, Alfred Döblin, Heinrich Heine, Karl Jakob Hirsch, Franz Werfel (Das Lied der Bernadette) – hatte mich wieder auf Fjodor M. Dostojewski aufmerksam gemacht – für Thomas Mann der größte Schriftsteller und Dichter jener Zeit.

Dostojewski kann man mit Fug und Recht einen radikalen Christen nennen, was heute nicht mehr gut ankommt, nicht en vogue ist, daher gerne von Rezensenten verschwiegen wird. Dostojewski ist kein Freund der röm.-katholischen Kirche, verschont aber mit seiner Kritik auch die russisch-orthodoxe Kirche nicht. Mit seinem Buch Die Brüder Karamasoff (1878-1880) greift er das zaristische Rußland an – ein Affront, der ihn später teuer zu stehen kommen wird; er wird es durch ein grauenvolles Arbeitslager fern in Sibirien büßen müssen. Ich beschränke mich auf Abschnitt V. Der Großinquisitor. Seiten 329 – 353 der mir vorliegenden Ausgabe der 1960-ziger Jahre.

Was fasziniert (mich) an dem Grossinquisitor?

Jesu (vorzeitige) Rückkehr auf die Erde? Das vom Dichter gewählte 16. Jahrhundert zur Zeit der spanischen Inquisition? *1) Die Anklage des greisen Kardinal-Großinquisitors? Jesu Reaktion? Sevilla? Jesu Aufenthalt in Sevilla ist es, der großartigen, mittelalterlich gefärbten Stadt, in der nicht ohne Grund der Jakobspilger die Via de la Plata, den Silberweg betritt. Die genialen Worte des Dichters, der das Wesen des Christentums richtig erkannt hat.

Die Geschichte. Das Poem von Jesus Christus.

Dostojewski läßt Jesus auf die Erde zurückkehren. Es entwickelt sich ein engagiertes Gespräch der Brüder Karamasoff, zwischen Iwan und Alescha. Sie interessiert die aktuelle Frage nach der Freiheit des Menschen, die neben der religiösen auch eine fundamental politische Dimension einnimmt. Wer wollte nicht einige Striche der Parallelität zu unserer heutigen Zeit ziehen? Laut Allensbach, Juni 2021, finden 44 von Hundert Deutschen finden, man könne seine Meinung nicht mehr frei äußern: Political Correctness heißt das Zauberwort. Mittlerweile ist die Prozentzahl gestiegen.

Jesu Rückkehr hat – natürlich – nichts mit seiner endgültigen, mit der von ihm verheißenen Rückkehr am Ende der Zeiten in himmlischer Glorie zu tun. Nein, es soll nur eine temporäre sein, ausgerechnet nach Sevilla. Will er mit seinem Erscheinen die dortigen Verhältnisse kritisieren? Ja. Auch ein Johannes von Avila (bekannt als „Johannes vom Kreuz“; Beichtvater von Teresa von Avila, der Kirchenlehrerin, die Heilige, die Schriftstellerin schlechthin), hatte just zu jener Zeit darunter zu leiden.

Jesus kommt still, alle erkennen ihn, „eine unwiderstehliche Macht (zieht) das Volk zu ihm hin; (…) Die Sonne der Liebe brennt in Seinem Herzen, Strahlen von Licht, Erleuchtung und Kraft strömen aus Seinen Augen, und alle, über die sie sich ergießen, sind ergriffen von Gegenliebe zu Ihm.  – (..) segnet sie, und von der Berührung Seiner Hände, ja schon von der Berührung Seines Gewandes geht heilende Kraft aus.“ – Mit den Worten „Talitha kumi („Stehe auf Mädchen“!) erweckt der Heiland ein totes Kind zu neuem Leben. (…) < S. 332ff. Vgl. auch Markus 5,38.

Der greise Kardinal-Großinquisitor läßt Christus inhaftieren

Der Kardinal weiß um den geschichtlichen Jesus, dessen Schweigen von Pilatus, preist es ein. In der Gefängniszelle spricht er mit Jesus, klagt ihn an. Ich zitiere: “Du versprachst ihnen (den Menschen) himmlisches Brot, ich aber frage Dich: Kann sich dieses Brot in den Augen des schwachen, ewig verderbten und ewig undankbaren Menschengeschlechts mit irdischem Brot messen?“

Der Großinquisitor klagt Christus an, sich nicht der „menschlichen Freiheit bemächtigt“, sondern sie vielmehr noch vergrößert zu haben. „O, wir werden ihnen (den Gläubigen) sogar die Sünde gestatten – sie sind schwach und kraftlos – und sie werden uns wie Kinder dafür lieben. Wir werden ihnen erlauben oder verbieten, mit ihren Frauen und Geliebten zu leben, Kinder zu haben oder nicht zu haben. (…) Und wir werden alles entscheiden, und sie werden mit Freuden unserer Entscheidung glauben, denn sie wird sie von großer Sorge und den furchtbar gegenwärtigen Qualen einer persönlichen und freien Entscheidung erlösen.“ Welche Parallelen zu heute! Stichworte: Pandemie, Klima-Katastrophe, Ukraine-Krieg.

Der Kardinal wendet sich erneut an Jesus, dieser schweigt weiterhin, blickt ihm still in die Augen, hört ihm zu, wie weiland vor Pilatus: – Ich (der Kardinal-Großinquisitor) (…) schloss mich der Zahl jener an, die Dein Werk verbesserten.“

Fazit. Der Großinquisitor stellt sich gegen das Liebesgebot Jesu, gegen die von Gott jedem einzelnen Menschen zuerkannte Personenwürde. Der Kardinal entmündigt den Menschen, er will ihm nicht mehr die Verantwortung seiner Freiheit und die „Kosten“ der Nachfolge Christi zumuten. Er spricht der Gleichschaltung das Wort.

Der Großinquisitor verwirklicht konsequent, was Dostojewski einmal als Befürchtung ausgesprochen hat;

  • (…) dass dann, wenn man den Glauben Christi entstellt, indem man ihn mit Zielen dieser Welt verbindet, der ganze Sinn des Christentums mit einem Schlag verlorengeht, daß der Geist unweigerlich im Unglauben versinkt.“

Sidestep. Wer denkt nicht unwillkürlich an die heutige Situation der katholischen Kirche in Deutschland mit dem eklatanten Glaubensabfall (Kleriker, Gläubige, Theologen), mit Häresie und Schisma?

Jesu Antwort: Er küsst den Grossinquisitor auf die Lippen

Christus verteidigt sich mit keinem Wort. Schließlich nähert Er sich dem Großinquisitor, Zitat: „küsst ihn still auf die blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist seine ganze Antwort.“

Der Kardinal geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Christus: „Warum bist Du gekommen, uns zu stören?“ – „Geh und komme nie wieder … komme überhaupt nicht mehr … … nie wieder, nie wieder! Und der Gefangene geht hinaus.“

Unnötig zu erwähnen: Der Kardinal glaubt nicht (mehr) an Gott; S. 348. Wer glaubt heute an Gott? An den dreifaltigen Gott? Gottvater, Gottes Sohn Jesus Christus, Heiliger Geist? Weltweit auf dem Papier über 2,5 Milliarden, abnehmend im gelobten liberalen Westen, prosperierend in Teilen Afrikas, Asiens, Süd-Amerikas und den USA.  

*1) Spanische Inquisition. Gern geglaubte Horrorgeschichten

Die heute noch gerne zitierten Schauermärchen über die vermeintlich monströsen Schandtaten der Katholischen Kirche Spaniens gehen auf ein Pamphlet eines abtrünnigen Mönches (Pseudonym „Monatanus“) zurück. Seine wüsten Übertreibungen und wilden Erfindungen hätten schon damals an sich jeden vernunftbegabten Menschen hellhörig machen müssen. Sie wurden hingegen bis in die Neuzeit als Quelle unzähliger Horror-Geschichten und bluttriefender Phantasmagorien herangezogen, von billigster Kolportage bis hin zum Werk eines Edgar Allen Poe. Quelle: Martin Eberts, Tagespost, 01.10.2020, Prof. Rodney Stark, USA. – mehr unten

Hannah Arendts Schlussfolgerung

Zu lesen im Welt-Interview vom 23. Juli 2024 mit dem Philosophen Alexander Garcia Düttmann: Man will dem Feind nicht ins Gesicht schauen, das verrät zu viel über einen selbst. (Print-Ausgabe: Unsere alte Welt zerbricht). Ich zitiere Düttmann in etwa: Als Hannah Arendt die berühmte Erzählung „Der Großinquisitor“ liest, in der der schweigende Jesus den zynischen Kirchenmann am Ende küsst und somit dessen Diskurs in Leere laufen lässt,

attestiert sie Jesu-Verhalten Gewaltanwendung. Warum? Selbst das Gute sei eine Form der Gewalt. Eine Gewalt der absoluten Gewaltlosigkeit, die jede Ordnung und jedes Gesetz erschüttere und mit der sich keine Kirche und kein Staat gründen ließe. Das natürlich Gute und Böse berührten sich, das sei das Skandalöse an Dostojewki. – Der Antwort Düttmanns entnehme ich, dass er sich mit Hannah Arendt identifiziert. Leider hat der Interviewer Jakob Hayner hier nicht insitiert.

Das ist das Skandalöse

Hanna Arendt wie Alexander Garcia Düttmann haben Jesus Christus überhaupt nicht verstanden, oder besser gesagt: sie torpedieren Jesu Christi-Offenbarung, damit letztlich das Christentum, wollen offensichtlich nicht akzeptieren, dass es das Gute schlechthin gibt, inkarnierte in Jesus Christus, Gottessohn. Natürlich ist dem Diktum – außerhalb der ersten drei Jahrhunderte – häufig genug nicht Rechnung getragen worden, im Gegenteil. Der skandalöse Anspruch bleibt aber bestehen, muss zu jeder Zeit gelehrt werden.

*) Hannah Arendt, geboren 1906 in Hannover, gestorben in New York City 1975. Jüdische deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin. Berühmt geworden u.a. durch ihre Eichmann- Prozessberichterstattung 1961 in Jerusalem, sowie durch ihren Ausdruck, bezogen auf Adolf Eichmanns grauenhaften Taten: „Banalität des Bösen.“

Besonderheiten der Spanischen Inquisition

Obwohl die Inquisition einen religiösen Hintergrund hatte, agierte sie relativ unabhängig von Papst und katholischer Kirche. Die Katholischen Könige Ferdinand und Isabella I. bündelten mit ihrer Heirat die Königreiche Aragons und Kastiliens. Im Anschluss beendeten sie die Re-Conquista, die Rück-Eroberung moslemisch besetzter Gebiete, mit der in 1492 erfolgten Eroberung Granadas – Grundlage für das heutige Spanien.

Um ihre Macht abzusichern, sie befürchteten nach wie vor den Einfluss und Eingriffe moslemischer Araber und auch der Juden, ließen sie sich Anno Domini 1478 von Papst Sixtus IV. die Erlaubnis geben, die Inquisition in Spanien einzuführen. Sixtus IV. soll nur widerstrebend seinen Segen gegeben haben.

Toledo: Nicht einmal 2% der Angeklagten von Toledo endeten auf dem Scheiterhaufen, neun von zehn Verfahren wurden mangels Beweisen eingestellt, weil die Beweise unsicher und/oder die Zeugen unzuverlässig erschienen. Gleichwohl, alle Nicht-Katholiken mussten entweder zum Katholizismus konvertieren oder das Land verlassen. Das traf verhängnisvoller Weise vor allem die jüdischen Mitbewohner. Mitnichten ein Euphemismus, wenn ich festhalte, daß die Moslems Gleiches an gleicher Stelle, nur Jahrhunderte zuvor, initiiert hatten, Stichworte  Massenkonversionen, Massenhinrichtungen. Dazu später mehr.

Wichtig. Die Inquisition hatte insoweit für Angeklagte den Vorteil, dass sie – für damalige Verhältnisse – ein ordentliches Gerichtsverfahren erwarten durften. Bei der sogenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit war dies mitnichten gegeben.