Nicht viele Pilger können der Meseta etwas Gutes abgewinnen.
04-10-23. Ich zähle mich zu den wenigen. Was macht die Meseta so besonders? Alles das, wofür ich den Camino gegangen bin, alles das, was viele Pilger nicht gewohnt sind: Stille und Einsamkeit. Kein Geplapper. Meditation
Das macht nur einen Teil der Faszination aus, die sich – ungebrochen – über sechs bis acht Tage hinwegstreckt: Eintönigkeit. Extreme Hitze im Sommer (Regen, Gewitter, Sturm und Hagel die Ausnahme). Oft kein Baum, kein Strauch, wenig Schatten. Sonne pur, blauer Himmel pur. In der Ferne gegen die Sonne schemenhaft zu sehen ein Gehöft, oder doch eine Herberge? Gleichmut. Stille. Einsamkeit. Null Abwechslung. Die Selbstreflexion stellt sich automatisch ein, ob man will oder nicht.
Die Meseta (spanisch für Tisch) ist eine Hochebene, ein Hochplateau, das durch Randgebirge begrenzt ist: im Norden durch die Kantabrischen Gebirge, im Süden durch die Sierra Morena; im Südwesten geht die iberische Meseta über in die Extremadura. Im Hochsommer kann das kontinentale Klima seine wahre Kraft entfalten: sengende Hitze, wenig Schatten, da fast keine Bäume. Neun (9) Monate Winter – drei (3) Monate Hölle (Hitze).
Der Jakobspilger durchquert die Nordmeseta (etwa 650 bis 900 Meter hoch) und einen Teil der Tierra de Campos (von Fromista bis nach Carrion de los Condes) in Ost-West-Richtung. Das gesamte Gebiet umfasst in etwa die Provinz Kastilien-Leon. Auf der Nordmeseta wie auf der Tierra de Campos wird Getreide- und Weinbau, sowie Schafzucht betrieben.
Der Weg führt von Burgos via Tardajos, Rabe de las Calzadas, Hornillos del Camino, Hontanas, San Anton, Castrojeriz, Fromista, Carrion de los Condes, Calzadilla de la Cueza, Terradillos de los Templarios, Sahagun, Bercianos del Real Camino, El Burgo Ranero, Mansilla de las Mulas bis nach Leon, der Stadt mit der schönsten Kathedrale Spaniens, sagt man. Einhundertsiebenundachtzig geschichtsträchtige Kilometer, nimmt der Pilger sich denn auch die Zeit, die Ortschaften zu erkunden. Ich für meinen Teil habe mich vorbereitet, über die einschlägigen Pilgerführer hinaus mich „schlau“ gemacht. Das pure Meseta-Feeling erlebt der Pilger letztlich in geballter Form nur auf der Strecke kurz vor Hornillos del Camino (925 m) bis Mostelares (910m) kurz hinter Castrojeriz.
Domenico Laffi, italienischer Priester und Reiseschriftsteller, fasste 1673 seine Erinnerungen *), was El Burgo Ranero angeht, so zusammen: “(…) wir gingen in Richtung Brunello mehr als vier Leguas weit, (…) und suchten Unterkunft, aber sie war so ärmlich, dass wir auf dem Boden schlafen mussten, denn diese hier sind alle Schafhirten, die in diesem Ort aus strohgedeckten Hütten wohnen.“ –
*) Quelle: Journey to the West by Domenico Laffi – The Diary of a Seventeenth-Century Pilgrim from Bologna to Santiago de Compostela. James Hall, 1997.
Ein bayerischer Filmemacher scheint die Meseta tatsächlich selbst durchschritten zu haben – Ende des letzten Jahrtausends noch vor dem Run der Pilger. Nicht anders sind seine bemerkenswert auf den Punkt gebrachten Worte zu fassen, sie scheinen, so hat man das Gefühl, einer anderen Epoche zu entstammen, (fast) völlig diametral zu denjenigen sich modernistisch gebender Pilger nur ein, zwei Jahrzehnte später:
Von der Wanderung durch die Meseta sind die Pilger am tiefsten beeindruckt. Auch wenn streckenweise die Landstraße parallel läuft, bleiben sie in dieser abweisenden Landschaft ganz auf sich gestellt, allein mit ihren Gedanken, ganz in ihrem eigenen gleichmäßigen Rhythmus dem Wind und der grellen Sonne ausgesetzt – auf ein fernes Ziel ausgerichtet.
Beim einsamen Gehen lösen sich innere Spannungen, Erinnerungen spülen frei, erlittene Kränkungen und Demütigungen schmerzen nicht mehr, langgehegte Wünsche werden bedeutungslos und ehrgeizig angestrebte Ziele relativieren sich, langes Gehen reinigt und heilt. Vielleicht erwacht darum der alte Pilgerweg zum neuen Leben.“
Der (vormalige) Erzbischof von Santiago, Monsignore Julian Barrio, betrachtet die Stille aus seiner Perspektive, der des gläubigen Kirchenmannes, nachzulesen in seinem Pastoralbrief zum Heiligen Compostelanischen Jahr 2010:
„Die Stille ist der Ort des Wortes Gottes, und der Pilger muss auf dem Weg seiner Pilgerschaft meditieren, wie es auch die Pilger von Emmaus taten. Im Wort Gottes begegnen wir einer Art und Weise, uns verschiedene menschliche Erfahrungen aufzeigen zu lassen auf der Suche nach dem Guten und der Wahrheit, und um die Zusammenhänge zu erkennen.“
Geschenk der Stille. Abschließen möchte ich mit Bruno dem Kartäuser. Der große Ordensmann (1027-1101)*), meditierte das Geschenk der Stille, rekurrierte auf Jesus Christus.
„Sie schweigen. Die Lippen sind verschlossen. Der Mensch kann mit verschlossenen Lippen nur den Buchstaben M sagen. Die Erfahrung göttlicher Wirklichkeit läßt sich nicht in Worte fassen. Und wenn die Lippen sich öffnen, beginnen sie, mit Worten das Unsagbare zu stammeln: Jesus Christus hat das Reich Gottes verkündet.“ – Mitten in der Nacht rufen sie (die Kartäuser) zu Gott: „Herr, öffne meine Lippen. Damit mein Mund Dein Lob verkünde“ – Psalm 51,17. „Kommt, lasst uns jubeln vor dem Herrn“ – Psalm 95. Und dann öffnen sie ihre Lippen zum großen Lobgesang.“
Einschub. Welch` ein Geschenk für den Peregrino autentico. Die Stille meditieren, keiner stört, kein Geplapper. Fauna und Flora bewundern. Mit dem Herrgott ins Gespräch kommen, mit sich ins Reine kommen.
Quelle: Betrachtungen von Hermann Rieke-Benninghaus, 2020. *) Kartäuser: Ordo Cartusiensis – von Bruno gegründet mit äußerst strenger Lebensweise/Askese. Der Film Die große Stille aus 2005, ausgezeichnet mit dem bayerischen Filmpreis 2005 und dem europäischen Filmpreis 2006, dokumentiert recht anschaulich das Leben der Mönche; gedreht in der Großen Kartause bei Grenoble.