16. Etappe: Zeit zum Nachdenken. Reisebericht Westwärts nach Galicien

Auszug Etappe 16 – Hornillos del Camino nach Castrojeriz, 21 Kilometer. Foto: Castrojeriz. Hostal el Meson.

So leise kann das dänische Ehepaar gar nicht sein.

Bis auf den schnarchenden Spanier werden alle wach — so gegen fünf Uhr. Interessiert schaue ich dem Geschehen zu. Immer wieder leuchten beide unter das Etagenbett, holen die Wolldecken hervor, die, wie gesagt, auf der Erde unter dem Bett lagen. Die nächsten Pilger werden sich freuen. Eine halbe Stunde geht das so. Plötzlich sind alle auf den Beinen, auch wir.

Exakt nach 35 Minuten befinden wir uns auf der Loipe. Es ist noch sehr dunkel, es ist ja auch erst kurz nach sechs Uhr in der Früh. Es dauert nicht lange, bis die Sonne durchkommt. Es ist völlig ruhig. Niemand ist auf der Straße. Wo sind denn die anderen aus der Herberge geblieben? Sehr wahrscheinlich am Frühstücken. Unten im Keller gibt’s einen großen Aufenthaltsraum mit einem Getränkeautomaten. Doch, dort drüben huscht einer aus der Haustür. Gibt es doch noch mehrere Unterkünfte, von denen wir nichts wissen? Wenig später überholen uns die Dänen forschen Schrittes.

Sei`s drum. Wir genießen die Stille, knappe 2 1/2 Stunden, bis Hontanas nur Ruhe, kein Gesabbel: wohltuend. Elke und ich sind uns einig, so wenig wie möglich den anderen anquatschen, die Gegend, den Weg, die Blumen, die Berge, die Felder, die Hitze aufnehmen. Viele Menschen sind dazu offensichtlich nicht bereit oder gar nicht fähig: sie reden, reden, reden. Vor allem wenn sie in Gruppen unterwegs sind, muss man sich sputen, von ihnen wegzukommen.

Die Hitze nimmt zu. Wir gehen auf einem alten Pilgerweg. Ich zitiere DuMont: „Wir gehen exakt auf dem alten Pilgerweg, hier ist uns keine Straße, keine Autobahn zuvorgekommen, die den Weg überdeckt und zerstört hat, und die uns auf Staubwege daneben oder auf ganz neue Trassen zwingt. Hier, wo wir gehen, zogen tausend Jahre lang Pilger genau denselben Weg.“ Ist das nicht toll zu wissen? Ich denke, ja. Genau deshalb sind wir beide auf dem Camino de Santiago.

Wie ist das möglich? Stundenlang sind wir fast alleine

auf dem Weg gewesen und jetzt? Ein Gewusel in Hontanas, links und rechts zwei Bars, alle Stühle belegt, von einer Gruppe junger Amerikaner, die sich einen Gepäckservice mit Fahrer leisten. Die letzten Kilometer hat es sich schon abgezeichnet. Vor uns tauchen mehrere Pilger auf. Entweder sind wir so schnell oder die vor uns Laufenden so langsam gewesen. Okay, was ist zu tun? Ich schnappe mir einfach einen der aufgestapelten Tische, stelle zwei Stühle dazu, frage Elke, was ich ihr holen soll.

Als ich herauskomme, reibe ich mir die Augen. Wo ist Elke geblieben? In der Zwischenzeit hat die Inhaberin der anderen Bar sie hinwegkomplementiert, weil ich nicht dort, also in der falschen Bar gegenüber Getränke besorgen war. Was es nicht alles so gibt?

Domenico Laffi, 1670/73

(…) wir kommen in das Städtchen, das sich Fontana (Hontanas) nennt, das im Grund eines Tälchens versteckt ist und kaum zu sehen ist (…) die Wölfe kommen in solchen Mengen, dass, wenn sie kein Lagerfeuer sehen, sie das Vieh fressen, sei es Tag oder Nacht (…) verweilen wir ein wenig und wandern dann nach Castel Sorriz ( Castrojeriz) zwei Meilen entfernt.

Weiter geht`s zum Kloster San Anton. Vorher schauen wir uns noch die Kirche an. Sie wird renoviert, das heißt, einige Bilder werden restauriert von einer Gruppe jüngerer Fachleute, so wie mir der Leiter erzählt. Die Meseta bricht abrupt ab. Jetzt müssen wir Asphaltstraßen akzeptieren. Von weitem sehen wir die berühmten Ruinen aus dem 12. Jahrhundert. Französische Mönche kümmerten sich damals um die Kranken, die am Antoniusfeuer litten (Vergiftung durch Getreideparasiten) und gaben den vorbeiziehenden Pilgern Wegzehrung mit; die Ausgabestelle mit den beiden Nischen ist heute zugemauert.

Hermann Künig von Vach, 1495

Danach findest du vier Spitäler auf den nächsten siebeneinhalb Meilen. Dann stößt du auf die Sant Thonges-Kirche (Sankt Antonius), dahin kannst du eilen. Dort gibt man dir das Brot, das du nötig hast. 1

Der Herbergsvater, es gibt hier tatsächlich eine provisorische Unterkunft, ist nicht nur sehr freundlich, er ist auch musikalisch. Er greift zur Klampfe und singt spanische Volkslieder. Die Herberge ist bewusst einfach ausgestattet, 12 Betten. Ich könnte mir eine Übernachtung dort gut vorstellen, unser Zeitplan sieht anderes vor. Der Reiseführer sagt allerdings auch, dass das Camino-Feeling nur bei schönem Wetter rüberkommt; auf jeden Fall sehr urig.

Die Herberge mit dem besonderen Flair zieht natürlich die jungen Leute an. Wie überhaupt zu sagen ist, dass sich sehr viele junge Menschen auf den Weg gemacht haben, mit welcher Motivation auch immer. Ich schätze mal, es sind Studenten.

Gelegentlich kommt man nicht umhin, den Gesprächen zu lauschen, ob man will oder nicht. Was ist zu hören? Nun, die der Mainstreampartei angehören, bringen ihren Beweggrund so auf den Punkt: „Ich will Spaß haben — Just for Fun.“ Mancher, so ein Deutscher in Carrion de los Condes, versteift sich gar in der Behauptung, die Kirche hätte nur Schlechtes vollbracht. Dass dieser Camino de Santiago / Camino Frances dem Grunde nach nur der katholischen Kirche zu verdanken ist, blenden sie dabei aus, nutzen gleichwohl alle Fazilitäten, die die Kirche ihnen bietet.

Der Verfasser von Outdoor kann sich dem auch nicht ganz entziehen, indem er bemängelt, die katholische Kirche von Santiago de Compostela solle sich bei der Erteilung bzw. Ausstellung der Compostela, der Pilgerurkunde nicht so anstellen. Es wäre doch egal, ob man nun aus religiösen oder sonstigen Gründen gegangen sei. Ich denke, es gibt halt Regeln. Wer diese nicht akzeptieren möchte, okay, dann mit allen Konsequenzen. Bei einer jungen Frau hört sich das allerdings so an. Sie berichtet ihrem jungen Begleiter: „gestern, das war toll bei den Nonnen im Kloster, abends hatten wir auch noch eine Messe mit Segen und so.“ Ziel unserer heutigen Etappe ist, sollte ich es noch nicht gesagt haben, Castrojeriz, 21 Kilometer von Hornillos del Camino entfernt. Direkt am Ortseingang liegt die Stiftskirche Colegiata de Santa Maria del Manzano aus dem 13. Jh.; leider geschlossen. Das Westportal ist ein Foto wert.

Domenico Laffi, 1673

(…) wandern nach Castel Sorriz (Castrojeriz) zwei Meilen entfernt, wo der Weg immer mit diesen verfluchten Heuschrecken bedeckt ist. (…) Es ist schrecklich anzusehen, wie nicht nur die Menschen sterben, sondern auch das Vieh, das kei-ne Weiden findet, weil sie durch diese Insekten kahlgefressen wurden. 5

Der Ort ist wie ausgestorben. Keiner wagt sich bei dieser Hitze hinaus. Die Läden machen erst gegen fünf auf, die kühlen Kirchen sind geschlossen. Unser Hostal El Meson ist ein Glücksgriff. Das Zimmer ist gut und preislich akzeptabel, das Menü hervorragend, der Service optimal: sehr freundlich, und: zum ersten Mal sieht Elke einen Stierkampf im Fernsehen – in der Bar. Der Wirt freut sich riesig, als ich ihm sage, ich werde sein Restaurant weiter empfehlen.

Castrojeriz` Entwicklung war immer mit dem Jakobsweg verbunden. Eine eigene Gerichtsbarkeit ist seit 974 n. Chr. nachgewiesen. Das Castillo de Castrojeriz, erbaut im 9. Jahrhundert, half im Kampf gegen die Mauren, heute ein geschütztes Baudenkmal. Der Name Castrojeriz soll westgotischen Ursprungs sein: Castrum Sigerici.

Hermann Künig von Vach, 1495

Nach einer halben Meile kommst du zu einer Burg, die fritz (Castrojeriz) heißt. Auf Deutsch wird sie die lange Stadt genannt. In ihr gibt es vier Spitäler. 1

Die drei letzten Etappen waren recht überschaubar, jeweils so um die 20 Kilometer plus / minus. Die nächste nach Fromista wird ein bißchen länger ausfallen, sechsundzwanzig Kilometer.

Quellen / Verweise
Mittelalterliche Zeugen / Autoren
Arnold von Harff. Das Pilgerbuch des Ritters Arnold von Harff (1496‐1498). Helmut Brall‐Tuchel und Folker Reichert. Böhlau Verlag Köln Weimar Wien; 3. Auflage 2009.


Domenico Laffi. Aus: Der Jakobsweg. Ein Reiseführer für Pilger. Millan Bravo Lozano, 1998. Turespana.
Domenico Laffi. A Journey to the West; 1670‐73. Translated by James Hall. Xunta de Galica, 1997.
Liber Sancti Jacobi/Codex Calixtinus. Aus: Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jh.. Klaus Herbers. Reclam, 2008.
Hermann Künig von Vach. Aus: Die Strass zu Sankt Jakob (1495). Der älteste deutsche Pilgerführer nach Santiago.
Klaus Herbers und Robert Plötz. Jan Thorbecke Verlag, 2004.
Wer das elent bawen wel. Lied der Jakobspilger seit dem 13. Jh.. Aus: Website www.jakobus‐info.de.


Wander‐/Reiseführer / Hinweise
DuMon aktiv. Spanischer Jakobsweg. Dietrich Höllhuber. 4. Auflage 2006.
Outdoor. Spanien: Jakobsweg Camino Frances. Michael Kasper & Michael Moll. Conrad Stein Verlag. 10. Auflage.
Unser Reisebericht fasst die von uns beschriebenen Erlebnisse dreier Pilgerwanderungen der vergangenen Jahre zusammen. Sollten wir dabei die Rechte
genannter oder auch nicht genannter Autoren ungenügend gewürdigt und/oder berücksichtigt haben, erbitten wir schon jetzt Dispens.


Literatur
Julian Barrio Barrio. Erzbischof von Santiago. Pastoralbrief zum Heiligen Compostelanischen Jahr 2010. Deutsche Fassung: Bischöfliches Ordinariat der
Diözese Rottenburg‐Stuttgart.
Paulo Coelho. Auf dem Jakobsweg, 1986/87. Diogenes. Shirley MacLaine. Der Jakobsweg, 1994/2000. Goldmann.
Menschen auf diesem Weg. Gebet aus: Pray – Das Jugendgebetbuch. Veröffentlicht zum XX. Weltjugendtag Köln 2005.
Gebetstext Heil`ger Jakobus. Aus: www.jakobus‐weg.de. Text von Wolfgang Schneller, 1987.
Dietrich Höllhuber, Werner Schäfke. Der Spanische Jakobsweg. Dumont Kunst Reiseführer, 6. aktualisierte Auflage.
Jakobusfreunde Paderborn. www.jakobusfreunde‐paderborn.eu.
Norbert Ohler. Pilgerstab und Jakobsmuschel. Patmos. 2. Auflage 2003.
Pilgerurkunde. Deutsche Übersetzung der Compostela: www.santiago‐online.com.
Gebetstext Segnung der Pilger. Stiftskirche Roncesvalles. Aus: www.jakobus‐info.de.