Entchristlichung des Jakobsweges? Gleichgültigkeit dem Glauben gegenüber.
24-01-24. Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema. Warum? Auch und gerade wegen des Camino de Santiago. Der Jakobsweg hat schon immer nicht nur christ-katholische Pilger angezogen, Abenteurer und Handelsreisende komplettierten von jeher den Pilgerstrom, nutzten die Infrastruktur. Später kamen dann sportive Wanderer hinzu, wie auch unsere evangelischen Freunde, die ja lange von Martin Luthers Aversion Wallfahrten und Pilgern gegenüber geprägt waren. Die Neugierde siegte, gerne vor allem von Pastoren garniert mit dem Hinweis, dass ihr Pilgern auf dem Jakobsweg natürlich nicht auf den Apostel Jakobus ausgerichtet sei; seine Gebeine in Santiago: wohl ein Märchen, bestenfalls eine Legende.
Und dennoch, der Pilgerstrom wächst und wächst, der Anteil der nicht-religiösen Pilger gleichermaßen. Das gelebte Christentum ist ihnen gleichgültig. Sogenannte Taufschein-Katholiken verstecken sich, stimmen ein in die Kritik an der Kirche. Das alles bereitet den Nährboden für das Fortschreiten einer Entchristlichung des Westens, Europas, Deutschland inklusive. In den osteuropäischen Ländern sieht es noch anders aus; gerade deswegen werden sie auch gerne von der EU-Kommission (ihre Präsidentin ist evangelisch-lutherisch) wie vom EU-Parlament angegriffen. Werte wie Familie und Tradition gelten mittlerweile als verpönt.
Jakobsweg – ein profaner Wanderweg
Es wird vermutlich eine Zeit kommen, dass der Camino de Santiago zu einem profanen Wanderweg mutieren wird. Ob er dann noch die Massen anziehen wird? Wer mag es heute bestimmen? Jedenfalls: wenn der Kipppunkt erreicht worden ist, ist vermutlich alles zu spät. Dann wird auch die katholische Kirche Spaniens sich fragen müssen, warum haben wir nicht rechtzeitig gegengesteuert? Dann werden – nach einem schmerzhaften Diskussions- und Erfahrungsprozess – Verantwortliche konstatieren: Beginnen wir von vorne, tun wir uns zusammen, begründen wir einen, ich sag es einmal so, einen realen, einen königlichen Jakobusweg, bei dem das Grab des heiligen Apostels Jakobus das Ziel des Camino sein wird, nicht der Weg das Ziel. Ich bin gespannt.
Auf die katholische Kirche bezogen, hat dies schon Ende der Fünfziger Prof. Joseph Ratzinger (der spätere Kardinal und Papst Benedikt XVI.) postuliert; also eine Kirche der kleineren Gemeinschaften vorhergesagt, fußend auf der traditionellen Lehre der Kirchenväter, einhergehend mit der Entweltlichung der katholischen Kirche; vgl. dazu seine Rede in Freiburg 2011.
Langsam scheint einigen Journalisten zu dämmern, dass die gegenwärtige Entwicklung so nicht weitergehen kann, auch und gerade in Anbetracht der vielen Anschläge auf christliche Kirchen und christliche Einrichtungen; stark ausgeprägt in den USA, Deutschland, Frankreich und Spanien, aber auch in Italien, dem Land des Papstes. Reinhard Müller von der FAZ titelte am 20. Dezember 2023: Plädoyer für ein christliches Deutschland. Einige Zitate: „Christlich geprägt, was sonst? Das Kreuz hochhalten: Gerade in Zeiten eines Kulturkampfes müssen Zeichen gesetzt werden. Mögen die Kirchen, was die Zahl ihrer Mitglieder angeht, sich im freien Fall befinden – sie werden weiterhin gesucht, wenn es ums Ganze geht. Auch von jenen ausgetretenen Gläubigen, die oftmals fadenscheinige Gründe vorschieben, wohl aber in erster die Kirchensteuer sparen wollen. So verwundert es um so mehr, dass ein Erzbischof Reinhard Kardinal Marx aus München MP Markus Söder vorwirft, er habe die Bedeutung des Kreuzes nicht verstanden, wenn er es nur als kulturelles Symbol sehe…“
Chefredakteur Roger Köppel von der Schweizer Weltwoche hatte fünf Tage zuvor am 15. Dezember 2023 deklamiert: Rettet Europa, zitiert Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. mit dem Satz: Jeder Mensch muss auf irgendeine Art glauben, schreibt weiter, ich zitiere: „Der christliche Glaube formuliert den vielleicht kühnsten Sprung auf die Unendlichkeit hin, den die Menschen je gewagt haben. Ein Gott, der seine Allmacht abgibt, um Mensch zu werden und am Kreuz den damals verwerflichsten aller Tode zu sterben, ist eine gewaltige Botschaft, eine Weltrevolution des Geistes, die bis heute wirkt. – Unsere Welt habe den festen Boden unter den Füssen verloren. Es gebe keinen Halt mehr, die Verwurzelung verschwunden. Mehr als bloße Geschichtsblindheit oder Traditionsvergessenheit. Es ist der Verlust der Religion, des Glaubens. Deshalb rennen die Leute dauernd neuen, andern Ersatzgöttern hinterher. Die Entmachtung des Religiösen führe direkt zur Allmacht der Politik, zum Ende der Freiheit, zur Verwüstung unserer Seelen.“
Und was sagt nun der Jahrhunderttheologe, der schon bald Papst Benedikt XVI. der Große genannt werden dürfte? Drei Sätze seiner Predigten vom 5. Februar 2006 und 2. Februar 2011 erhellen die Situation:
- „Letztendlich besteht die Gefahr, daß die Geschöpfe, wenn ihnen ihr Bezug zu Gott als transzendente Grundlage genommen wird, unter die Willkürherrschaft des Menschen fallen, der, wie wir sehen, mit ihnen Missbrauch treiben kann.
- Wo Gott nicht ist, dort wird auch der Mensch nicht mehr respektiert. Nur wenn der Glanz Gottes auf dem Antlitz des Menschen erstrahlt, ist der Mensch das Abbild Gottes, von einer Würde geschützt, die niemand mehr verletzen darf.
- Wir erleben heute, vor allem in den stärker entwickelten Gesellschaften, einen Zustand, der häufig durch eine radikale Pluralität, durch eine fortschreitende Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben und durch einen Relativismus geprägt ist, der die Grundwerte angreift. Das erfordert, daß unser christliches Zeugnis leuchtend und beständig und daß unser erzieherisches Bemühen aufmerksam und großherzig ist.“
Quelle: Die Tagespost.
Und nun das überraschende Momentum, der französische Historiker Emmanuel Todd bringt sich ins Spiel, stützt die Argumentationen der Vorgenannten – in seinem „Le Figaro“-Interview, in der deutschen Übersetzung am 22. Januar 2024 in der WELT erschienen. Drei Faktoren für Untergang des Westens. Einen Faktor möchte ich an dieser Stelle vertiefend begleiten; ich zitiere auszugsweise:
WELT: Sie setzen den Niedergang des Westens mit dem Verschwinden der Religion in Zusammenhang – vor allem des Protestantismus – und datieren dieses Verschwinden auf die Zeit, als Homosexuellen-Ehen gesetzlich erlaubt wurden.
Todd: „Ich bin hier nur Religionssoziologe, der froh darüber ist, dass er einen präzisen Indikator hat, mit dem er den Zeitpunkt des Übergangs in einen Null-Zustand bestimmen kann. Der Glaube ist zwar verschwunden, doch von der Religion geerbte Sitten, Werte und die kollektive Handlungsfähigkeit bestehen noch, wobei sie oft in eine ideologische Sprache übersetzt werden – national, sozialistisch oder kommunistisch. Die Religion jedoch hat zu Beginn des dritten Jahrhunderts einen Null-Zustand erreicht, das ich mithilfe von drei Indikatoren erfasse – ich suche allerdings immer noch die statistischen Indikatoren, um sowohl moralische als auch soziale Phänomene bewerten zu können.“
WELT: Was sind die Merkmale dieser beiden Zustände?
Todd: „Die Leute (gehen) zwar nicht mehr in den Gottesdienst, lassen aber ihre Kinder noch taufen; mittlerweile ist jedoch auch die Taufe verschwunden, also wurde das Null-Stadium erreicht. Die Toten (wurden früher) immer noch beerdigt, womit man auch der Kirche gehorchte, die eine Verbrennung ablehnt. Heute hat sich die Verbrennung überall eingebürgert. Sie ist zur allgemeinen Praxis geworden, sie ist praktisch und billig, Null-Stadium erreicht. Und schließlich hatten auch die (früheren) zivilen Eheschließungen immer noch alle Merkmale einer früheren religiösen Ehe – ein Mann, eine Frau und Kinder, die es aufzuziehen gilt. Mit der gleichgeschlechtlichen Ehe, die für die Religion keinerlei Sinn macht, verlassen wir den (ehemaligen) Status, und dank der Ehegesetze für alle kann man den neuen Null-Zustand der Religion nun auch datieren.„
Interessant diese Analyse, nicht wahr. Ich kann mir gut vorstellen, dass dem Journalisten Todds Antworten möglicherweise nicht ins Kalkül passten, als dieser seine historische Feststellung zu Papier brachte, dass u.a. die neuen Ehegesetze den Untergang des Westens beschleunigten. Zu Beginn des Interviews war Todd auf das in den USA seit 1965 festzustellende sinkende Bildungsniveau eingegangen. Als zweiten Faktor, der gleichermaßen maßgeblich zum Untergang des Westens beigetragen habe, sieht er das Verschwinden des amerikanischen Protestantismus – mit Verweis auf Max Webers (dt. Soziologe, 1864 bis 1920) Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“; also die schwindende Arbeitsethik, die allgemeine Gier der Massen.
Der Protestantismus dieser Couleur (mit seinen Erwählten Gottes und den Verdammten auf der anderen Seite) hatte sich darüber hinaus immer als Gegenentwurf zum Katholizismus verstanden, der von jeher die Gleichheit aller Menschen propagierte (Anm.: Brief Paulus an die Galater 3,29: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ – vgl. auch Röm 10,12, 1Kor 12,13 und Kolosser 3,8-14). Gerade diese Maxime hatte in der Antike zur exorbitanten Verbreitung des Christentums beigetragen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit hatten sich alle Menschen gleichwertig fühlen können. Schade, dass der Teil des Protestantismus mit seiner sehr ausgeprägten Prädestinationslehre (Vorherbestimmung Gottes) diesen Weg des Christentums, der zwischendurch durchaus auch immer Gegenstand ausführlicher Diskussionen war (vgl. Augustinus, 4./5. Jh.) definitiv nach Luthers Reformation im 16. Jh. überhaupt nicht mehr mitgehen konnte resp. wollte. Eine abgeschwächte Form hätte durchaus zur Befriedung der Konfessionen geführt und auch und gerade die von den Prädestinierten bevorzugte und gelebte Arbeitsethik auf den Katholizismus mittelbar überschwappen lassen können, reziprok der katholische Gleichheitsgrundsatz. So entwickelten sich – offensichtlich bewusst – die betreffenden Denominationen auseinander, bekämpften sich, etc. An anderer Stelle dazu mehr.
Vielleicht ein wenig unfair, wenn ich als Katholik diesen Teil mit Emmanuel Todd beende, der bei der Beantwortung der zweiten Frage betreffend Max Webers Buch einwarf: „Übrigens verschwindet der mit dem Protestantismus verbundene Rassismus ebenfalls und die Vereinigten Staaten hatten ihren ersten schwarzen Präsidenten, Barack Obama.„
Schließen möchte ich mit Gregor Gysi von den Linken, der in 2022 überraschend sich wie folgt outete: er sei zwar Atheist, würde aber das Bestehen des Christentums unbedingt befürworten. Ich zitiere Kirche und Leben vom 13. April 2022: „Gregor Gysi (74), Linken-Politiker und bekennender „nichtreligiöser Mensch“, hat sein Verhältnis zum Christentum erläutert. Er wolle allein schon der Feste wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten wegen nicht in einer religionslosen Gesellschaft leben, sagte Gysi dem Magazin „Grandios“. In einer solchen Gesellschaft wären außerdem viele Normen wie das allgemeine Tötungsverbot nicht mehr so einfach zu vermitteln. Der Politiker sagte, auch ihn habe die Bergpredigt geprägt: „Da steht drin, ich soll meine Feinde lieben. Das kann ich nicht. Aber eines konnte ich: Ich habe nicht zurückgehasst, wenn ich gehasst wurde. Das hat mich souveräner gemacht.“ –
„In der Bibel ist alles drin“ – Wenn er auf eine einsame Insel nur ein Buch mitnehmen dürfte“, wäre das die Bibel, sagte Gysi. „Da finde ich alles drin. Altes und Neues Testament, das hat es in sich. Das Alte Testament nicht aufzuheben, sondern ein neues zu schreiben und doch viele Passagen zu widerlegen, ist genial. Die Kirchen sind genialer Erfinder der Dialektik.“ – Der 74-Jährige sagte, ihm sei vor seiner Gehirnoperation 2004 prophezeit worden, er werde anfangen, an Gott zu glauben. Das habe er „selbst im Angesicht einer solchen Gefahr nicht getan“. Aber vielleicht habe er ja unrecht. „Die Möglichkeit lasse ich in meinem Kopf zu als Fragezeichen. Ein gläubiger Mens