Mai 2006. Schnell sind die Rucksäcke gepackt, die Wanderstiefel geschnürt, das tags zuvor aufgeladene Mobile in die Tasche gesteckt. Es ist dunkel. Na klar, ist ja auch erst viertel vor sechs. Klar auch, dass es um diese Uhrzeit kein Frühstück gibt. Keiner stört uns. Hoffentlich finden wir den Weg nach Molinaseca.

Elke schreitet voran, sie hat die besseren Augen, sie genießt die Stille, ich konzentriere mich auf den Weg — über die einsamen Montes de León.
Die Gedanken nehmen ihren Lauf. Elke erzählt mir von ihren Beweggründen, sie hat ihren Gott längst gefunden, sie will ihm danken. Ich gebe zu, mir schwirrt der Kopf: Gottsuche, Vernunft, Selbstfindung, 7-Jahres-Rhythmus. Ein tiefes Gefühl durchströmt mich, wie schön kann doch die Welt sein, wie schön Fauna wie Flora. Gut, dass keine Bergbahn hierauf führt.
Im Hintergrund die Montes de Leon; davor das Cruz de Ferro.
Zum ersten Mal in meinem Leben achte ich penibel darauf, nicht mal eine Ameise zu zertreten. Man wird ja immer wieder gefragt, „Was hat dir denn der Weg gebracht, bist du ein anderer Mensch geworden?“

Ich weiß, diese beiden Stunden des Meditierens, der Gespräche mit Elke, auf dieser speziellen Etappe, weit und breit keine lärmenden Touristen, werden mir immer gegenwärtig bleiben. Danke.
Das Cruz de Ferro liegt in Sichtweite vor uns,
nach zwei Stunden und 342 Höhenmetern auf 1504 m; für mich der Höhepunkt schlechthin. Zu Hause werde ich meine Fotoshow mit der Musik von Emerson, Lake & Palmer unterlegen. Die Fanfare for the Common Man spiegelt exakt die Stimmung wider — punktgenau justiert. Ein Highlight.
Cruz de Ferro. Der höchste Punkt des Camino Frances. Nur der Somport-Pass in den Pyrenäen (Camino Aragones) ist höher. Man vermutet, dass hier ein mittelalterlicher Gutsherr einen seiner Grenzsteine gesetzt hat. Eine andere Variante berichtet von einer Schenkung König Alfons VI. im Jahre 1103 an einen Einsiedler namens Gaucelmo, der hier wohl sein Kreuz aufstellte. Es könnte auch möglich sein, dass bereits die Kelten den Platz für ihre Rituale genutzt haben. Heute bringt jeder Pilger sein Steinchen mit, von zu Hause, legt es auf den großen Haufen, eingedenk der Hoffnung, sich damit von irdischen Unzulänglichkeiten, von den Sorgen befreien zu können. Mittlerweile nutzen viele das Kreuz als Pinnwand für persönliche Dinge (Briefe), aber leider auch für Unschickliches. Auf jeden Fall ein mystischer, für die Kelten ein mythischer Ort.

Traumhaftes Wetter. Die Sonne scheint. Ich bin ein wenig vorgelaufen, schnell nehme ich das Steinchen, werfe es auf den Steinhaufen, es symbolisiert die auf dem Weg hinter sich gelassenen Sünden, vielleicht schon die erfahrene Läuterung?
Ich halte inne. Elke steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Sie ist eine willensstarke, mittlerweile gut trainierte Frau. Stehen minutenlang vor dem Kreuz, registrieren abwesend, gedankenverloren die dort abgelegten Gegenstände, manches Unnützes und Profanes ist darunter. Meditieren ein wenig.





Nach 45 Minuten zeigt sich Manjarin, eine eigenwillige, dem Templerorden nachempfundene Albergue, mit vielen Hunden. Interessant ist der Eingang. Schilder zeigen die Richtung an, unter anderem nach Galicien 70 km, Santiago 222 km, Jerusalem 5000 km, Rom 2475 km. Ebenso zu entziffern die Orte Trondheim, Finisterre und Machupichu, eine alte Ruinenstadt der Inkas.


Ein sympathisches französisches Ehepaar spricht uns an, erzählt, dass die Besitzer für Kaffee und Kekse nur eine kleine Spende (Donation) erwarten.
Beim Cruz de Ferro hatten sie uns nicht stören wollen. Später werden wir sie in Molinaseca wieder treffen. Danach verlaufen sich die Wege.
Domenico Laffi, 1670/73
Wir gingen weiter den Berg hoch. Hier wurden wir von einem fürchterlichen Sturm erwischt, wir bangten um unser Leben. Dem Regen und Wind folgte eine sehr heiße Sonne, die schnell unsere Kleidung trocknen ließ.
El Azebo – 11:25h.Sind noch guter Dinge. Genehmigen uns in einer Bar einen Cafe con Leche, kommen mit einem Nordiren ins Gespräch. „Where are you from? Why are you here? You like the camino?” And so forth.
Wir verlassen den Ort, betrachten nachdenklich das Denkmal für einen vor Jahren hier an dieser Gabelung tödlich verunglückten deutschen Radfahrer.

Das berühmt-berüchtigte Foncebadon liegt schon lange hinter uns,
hatten dort an sich mit einer Hundeattacke gerechnet. Enttäuschend, völlig öde und verlassen, einige Fensterklappen schepperten im Wind; die viel beschriebenen, angeblich so gefährlichen Hunde waren wohl ausgerückt. Jahre später *) lese ich, wie just eine Deutsche sich erfolgreich um die Wiedereröffnung der Herberge in Foncebadon eingesetzt hat.




Nachtrag 28.10.2022. So sieht Foncebadon Anno 2022 aus. Das Kreuz mitten auf der Straße hat sich gehalten; vgl. erstes Foto, 2006. Die nachfolgenden Fotos hat mir freundlicherweise Karin Adams zur Verfügung gestellt, aufgenommen am 01.10.22 im Rahmen ihrer fast zweimonatigen Pilgertour quer durch Deutschland und Frankreich, über den Camino Frances nach Santiago de Compostela.
Foncebadon. Im 12. Jahrhundert errichtete San Gaucelmo hier ein Hospital. Paulo Coelho nutzte den dunklen Ort als Hintergrund für eine dunkle Szene seines Tagebuchs Auf dem Jakobsweg: “Ein starker Schmerz durchfuhr mein Bein, er hatte mir eine tiefe Fleischwunde gerissen. (…) Der Hund griff sofort wieder an. Da stieß meine Hand an einen Stein. Ich packte ihn und schlug verzweifelt auf den Hund ein (…).” Viel schöner klingt es da an anderer Stelle: “Stelle dir vor, dass sich die Heiligen dir nähern, um ihre Hände auf deinen Kopf zu legen, und dir Liebe, Frieden und das Gefühl von Gemeinschaft mit der Welt wünschen.
Wer das elent bawen wel, 13. Jh., Strophe 12
Der vierte haist der Rabanel (von Rabanal zum Cruz de Ferro), darüber laufen die brueder und schwester gar schnell, der fünfe hast in Alle Fabe (O Cebreiro), da leit vol manches bidemans kint auß teutschem lant begraben
Es beginnt ein schwieriger Abschnitt des Weges. Ich bin sauer. Ständig überholen uns, wie sich später herausstellen wird, Buswanderer und Tagesausflügler: gut gelaunte, frische, ausgeruhte.

Ab Riege de Ambros wird es heftig. Ein im wahrsten Sinn des Wortes original erhaltener mittelalterlicher Weg (Nachtigallental) kommt uns in die Quere. Der Verfasser des Reiseführers spricht euphemistisch von einer alten Maultierstraße mit ausgeschwemmter Pflasterung. Was soll`s, sie ist abschüssig, man muss sich höllisch konzentrieren, darf nicht stolpern, nicht ausrutschen. Bei Regen fast unmöglich zu begehen.
Die fröhlichen Buswanderer scheint es nicht zu stören. Na klar, wenn Mann/Frau keine zehn bzw. zwölf Kilo auf dem Rücken hat, lässt sich`s gut leben und gehen. Sie wissen, unten an der Straße wartet ein Bus auf sie, Getränke inklusive. That`s life.
Die Frustration hat sich aufgelöst. Scheinbar, wie sich später herausstellt. Biegen nach links in den Ort hinein, Molinaseca. Alle Hotels sind belegt. Warum? Ich weiß es nicht. Irgendeine Veranstaltung, ein Fest. Heidrun aus Bremen und „ihr Spanier“ erzählen von der Herberge am Ortsrand der Stadt. Die Unruhe legt sich. Als letzte ergattern Elke und ich einen Schlafplatz. Glück gehabt. Andere, die später kommen, campieren draußen, nur geschützt vom Vordach, wie Siegfried und Christine aus der Bretagne. Die abgestempelten Ausweise in der Hand folge ich Elke und den beiden nach oben in den komplett belegten Gemeinschaftsraum der Herberge, über vierzig Betten.
Molinaseca. Gemeindeherberge San Roque, direkt an der
Straße am Ortsausgang in Richtung Ponferrada. Der Herbergschef zeigt Ankommenden die gerade aufgestellten
Betten. Nun, es war alles ein wenig seltsam. Die Sanitäranlagen überholungsbedürftig. Uns hat`s diesmal nicht gestört. Hier soll im Jahr 2000 Kardinal Ratzinger,
unser heutiger Papst Benedikt XVI., übernachtet haben.

Das Refugium hat wenigstens einen kostenfreien Internetzugang, so konnte ich nachmittags mehrere Mails absenden. Ob sie wirklich so wichtig waren? Verwandtschaft, Partei, Firma? Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Herberge, in den Foren wird über sie nicht gerade positiv geurteilt – seltsamer, launischer Herbergschef, unsaubere, überholungsbedürftige Sanitäranlagen, etc. – mit Kardinal Ratzinger, unserem jetzigen Papst in Verbindung bringen kann. Joseph Ratzinger soll hier im Jahre 2000 übernachtet haben. Ich mag`s nicht glauben. Was mache ich bloß mit meiner Brille, wo lege ich sie ab? Guter Rat ist teuer.

Fast alle sind schon eingeschlafen, und dabei ist es noch keine zehn. Der Schnarcher von nebenan lässt mich nicht zur Ruhe kommen, meine Knie schmerzen, der Schlafsack ist plötzlich zu eng. „Wollen wir nicht schon die Rucksäcke packen, für morgen? Wollen ja eh früh weg.“ Elke nickt. Sind ganz leise, keiner hört uns. Mit den Klamotten der Nacht in den neuen Tag hinein. That`s the way I (have to) like it.
Hermann Künig von Vach, 1495
(…) und man gibt gern Wein und Brot in der Umgebung von Bonforat (Ponferrada). In der Stadt liegt eine stattliche Burg. Dann hast du drei Meilen bis Kacafeloß (Cacabelos) , dann hast du fünf Meilen bis Willefrancken; dort trinke mit Verstand, weil er manchem sein Herz ausbrennt, daß er erlischt wie eine Kerze. 1
Fotos. Molinaseca, Herberge San Roque auf engstem Raum .





Quellen / Verweise
Mittelalterliche Zeugen / Autoren
Arnold von Harff. Das Pilgerbuch des Ritters Arnold von Harff (1496‐1498). Helmut Brall‐Tuchel und Folker Reichert. Böhlau Verlag Köln Weimar Wien; 3. Auflage 2009.
Domenico Laffi. Aus: Der Jakobsweg. Ein Reiseführer für Pilger. Millan Bravo Lozano, 1998. Turespana.
Domenico Laffi. A Journey to the West; 1670‐73. Translated by James Hall. Xunta de Galica, 1997.
Liber Sancti Jacobi/Codex Calixtinus. Aus: Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jh.. Klaus Herbers. Reclam, 2008.
Hermann Künig von Vach. Aus: Die Strass zu Sankt Jakob (1495). Der älteste deutsche Pilgerführer nach Santiago.
Klaus Herbers und Robert Plötz. Jan Thorbecke Verlag, 2004.
Wer das elent bawen wel. Lied der Jakobspilger seit dem 13. Jh.. Aus: Website www.jakobus‐info.de.
Wander‐/Reiseführer / Hinweise
DuMon aktiv. Spanischer Jakobsweg. Dietrich Höllhuber. 4. Auflage 2006.
Outdoor. Spanien: Jakobsweg Camino Frances. Michael Kasper & Michael Moll. Conrad Stein Verlag. 10. Auflage.
Unser Reisebericht fasst die von uns beschriebenen Erlebnisse dreier Pilgerwanderungen der vergangenen Jahre zusammen. Sollten wir dabei die Rechte
genannter oder auch nicht genannter Autoren ungenügend gewürdigt und/oder berücksichtigt haben, erbitten wir schon jetzt Dispens.
Literatur
Julian Barrio Barrio. Erzbischof von Santiago. Pastoralbrief zum Heiligen Compostelanischen Jahr 2010. Deutsche Fassung: Bischöfliches Ordinariat der
Diözese Rottenburg‐Stuttgart.
Paulo Coelho. Auf dem Jakobsweg, 1986/87. Diogenes. Shirley MacLaine. Der Jakobsweg, 1994/2000. Goldmann.
Menschen auf diesem Weg. Gebet aus: Pray – Das Jugendgebetbuch. Veröffentlicht zum XX. Weltjugendtag Köln 2005.
Gebetstext Heil`ger Jakobus. Aus: www.jakobus‐weg.de. Text von Wolfgang Schneller, 1987.
Dietrich Höllhuber, Werner Schäfke. Der Spanische Jakobsweg. Dumont Kunst Reiseführer, 6. aktualisierte Auflage.
Jakobusfreunde Paderborn. www.jakobusfreunde‐paderborn.eu.
Norbert Ohler. Pilgerstab und Jakobsmuschel. Patmos. 2. Auflage 2003.
Pilgerurkunde. Deutsche Übersetzung der Compostela: www.santiago‐online.com.
Gebetstext Segnung der Pilger. Stiftskirche Roncesvalles. Aus: www.jakobus‐info.de.