Erst mit dem letzten Satz ihres „Welt“-Artikels „Pilgern statt Porsche? So reagieren Sie am besten auf die Midlife-Crisis“ geht die Autorin auf das Pilgern auf dem Jakobsweg durch Nordspanien ein – als eine von vielen Problemlösungen, die Midlife-Crisis zu überwinden. Die Autorin geht in ihren Vorstellungen offensichtlich von 35 bis 55 Jahre alten erfolgreichen Managern aus, die nicht mehr weiterwissen. Beispiel: der Himalaja-Trip sei ja schon abgehakt. Ich denke, der Normalbürger und Gestresste wird wohl kaum den Weg zu einem Psychologen und / oder einer Coachin suchen. Er wird wahrscheinlich auch nur vom Kauf eines rasanten hochvolumigen Sportwagens träumen; möglicherweise auch nur temporär das Mobile abschalten; vielleicht sich seiner früheren sportlichen Fähigkeiten besinnen. Damit sind einige ihrer Kriterien benannt.
Oder: Einfach den Camino wagen
Nicht zögerlich zum Kennenlernen erst einmal einige Etappen auf einem Nebenweg! Nein, gleich das volle Programm wagen – auf dem Camino del Norte, auf dem Camino Frances den inneren Schweinehund überwinden müssen. Rasch wird er oder sie feststellen, Ehrlichkeit vorausgesetzt, ob man nur im Job gut ist, oder vielleicht nicht auch auf einem völlig fremden Terrain sich zurechtfinden. Blasen akzeptieren, Psyche ….
Quelle: „Welt“-Artikel Marie Welling, S. 10 Wirtschaft und Geld, 22. Oktober 2024. Titel: s.o.
Derjenige Pilger, der die Fernroute des Jakobswegs wählt, ...
… meinem Vorschlag folgt, zum Beispiel von St. Jean aus, wird sich darüber im klaren sein, dass er auf dieser heiligen und historischen Route bewusst die Hektik des modernen Lebens abstreifen wird, das Gehetztsein des Alltags, die Kurzlebigkeit mit ihren Marktgesetzen eintauscht gegen ein Pilgerdasein, das sich ihm neue Horizonte erschließt, durch Langsamkeit Neues erkennen, vielleicht im Zwiegespräch mit dem Herrn. Dabei werden ihm Mit-Pilger, Freiwillige der Herbergen und gastfreundliche Anwohner helfen: in dieser geballten Form auf keinem anderen Wanderweg anzutreffen. (Hinweis: immer ist auch eine „sie“ gemeint!)
Neugierige und wissbegierige Pilger saugen Landschaft wie Infrastruktur auf, eine über Jahrhunderte alte sich entwickelnde christ-katholische Infrastruktur. Man fragt sich zu Recht, wie es eigentlich angehen könne, dass beispielsweise ein amerikanischer Manager oder eine deutsche Geschäftsfrau, zu Hause nur allerbeste Hotels gewohnt, nun plötzlich bescheidene Herbergen und Hostels ansteuert, beide Gastfreundschaft und geschwisterliches Zusammenleben suchen; dies alles offensichtlich als wesentlichen Bestandteil des Camino de Santiago begreifen, zu Hause dies niemals auch nur annähernd in Erwägung ziehen würden. – Mehr hierüber im nachfolgenden Beitrag.
Zur Einstimmung die Erzählung von J. A. Gonzales Sainz
Sie hat mich besonders angesprochen. Zwei Protagonisten, unterschiedlicher sie nicht sein können, kommen vor der Klosterkirche von San Juan de Ortega (nahe der Provinzhauptstadt Burgos) ins Gespräch. Sie eine Top-Managerin, er ein Angestellter, ein Durchschnittsbürger. Ohne der Geschichte vorgreifen zu wollen, sie lohnt es, in Gänze gelesen zu werden, thematisiert sie sehr das Faszinosum, dass back home erfolgreiche Manager sich auf dem Camino wohlfühlen, dort auch ihre Probleme reflektieren.
Quelle: Wege und Umwege nach Compostela – Ein literarischer Jakobsweg in Castilla y Leon: Der Lichtstrahl im Gesicht. J. A. Gonzalez Sainz.
Bewegend wie Gonzalez Sainz die Geschichte einläutet. 23. September. Tag der Vollkommenheit, der Reinheit, mit der der Lichtstrahl am Morgen die Tagundnachtgleiche durch das Fenster der Kirche fallen läßt auf „Mariä Verkündigung“ mit Gabriel, dem Verkündigungsengel: Begegnung und Erfüllung. Schwärmend fügt er hinzu, dass Hände wie Gesichter eine unglaubliche Ausdruckskraft besäßen: Verkündigung der Vollkommenheit und Verheißung einer denkwürdigen Gabe. Unglaublich toll formuliert. Ein außergewöhnlicher Schriftsteller halt.
Eine äußerst erfolgreiche, kühl bis kalt agierende Managerin …
… verliebt sich geradezu in die Einfachheit des Pilgerns. Auf dem Camino Frances gen Santiago de Compostela. – “In den einfachsten Herbergen“, fuhr sie jetzt mit einer merkwürdigen Fröhlichkeit fort, „stellt man dir eine Pritsche zur Verfügung.“ Freundlich aber bestimmt werde sie einem zugewiesen, ohne Widerspruch akzeptiert. Man dürfe Waschräume und Toiletten benutzen; eine Nacht Unterschlupf, Schutz vor Kälte oder Hitze, geschundene Füße pflegen, morgens ein kleines Frühstück zu sich nehmen, danach wieder der gleiche Trott, das gleiche Ritual: sich wieder auf den Weg machen, Ruhe finden, wohltuende Ruhe für die im Leben gebeutelten – auf tausenderlei Arten – verlorenen Seelen. Wer mag, findet Gesellschaft, findet Stille, wie auf dem Weitermarsch am nächsten Tag.
- „Wissen Sie, mein Leben lang erreiche ich alles, indem ich es befehle, klipp und klar,
- denn ich verfüge über genügend Mittel und Unmengen von Mitarbeitern,
- und die Ziele, die ich verfolge, zeigen mir, wenn sie erreicht sind, neue auf.
- Doch hier suche ich genau das Gegenteil: über nichts zu verfügen, nicht zu befehlen,
- ohne Abhängigkeiten oder Hast, ohne Überfluß, Berechnung, Interessen oder Luxus.“ –
Die Meseta genießen
Faszinosum – Echter Camino. Nicht viele Pilger können der Meseta etwas Gutes abgewinnen.
Stille und Einsamkeit. Kein Geplapper. Meditation. Über sechs bis acht Tage: Eintönigkeit. Extreme Hitze im Sommer (Regen, Gewitter, Sturm und Hagel die Ausnahme). Oft kein Baum, kein Strauch, wenig Schatten. Sonne pur, blauer Himmel pur. In der Ferne gegen die Sonne schemenhaft zu sehen ein Gehöft, oder doch eine Herberge? Gleichmut. Stille. Einsamkeit. Null Abwechslung.
Die Selbstreflexion stellt sich automatisch ein, ob man will oder nicht.